Doch darum geht es nicht. Vielmehr ist die Frage: Was wäre, wenn wir tatsächlich das Gras wachsen hören könnten? Was hätte es uns zu sagen?
Wahrscheinlich würde es flüstern. Weil wir es kurz halten, kann es überhaupt nicht laut sein. Das Gras würde uns bitten, wachsen zu dürfen. "Einmal richtig hoch stehen und blühen", träumen die kurzen grünen Halme. "Und Schluss mit den Mährobotern", fügen sie ärgerlich hinzu. "Tag und Nacht fahren sie über uns weg und hinterlassen nichts als Grasschnippsel."
Der Tratsch interessiert uns nun doch
Wir stellen schnell fest, Gras hat es heutzutage nicht leicht. Obwohl es gehegt und gepflegt wird. "Wir sollen nur ein grüner Teppich sein", klagen die Grashalme. "Dann werden wir auch noch vielerorts durch Kunstrasen ersetzt und deshalb immer weniger."
Klagen, nichts als Klagen, denken die Menschen und versuchen das Gras zu überhören. Aber das besinnt sich und beginnt über unsere Nachbarn zu flüstern. Wir stellen fest: Der Rasen ist bestens informiert und hören jetzt genauer hin. Der Tratsch interessiert uns nun doch. Was es alles zu erfahren gibt! Die Zeitungen und Magazine lagen so falsch. Unglaublich! Wenn auch noch das Korn auf den Feldern zu plaudern beginnt....
Viele Menschen lassen den Rasen jetzt wachsen, damit er höher steht und mehr mitbekommt. Er hat die volle Aufmerksamkeit und stöhnt über die Trockenheit. Daraufhin wird er gewässert. Er breitet sich aus und verbindet sich vielerorts. Seine Berichte werden präziser. Die Menschen schaffen ein Netzwerk des Grases. Nur wenige koppeln sich ab, indem sie auf ihren Rasenflächen Kartoffeln pflanzen. Sie gelten als Außenseiter.
Wir würden uns wundern
Je mehr sich das Gras ausbreitet, desto festere Zäune bauen die Menschen allerdings. Sie wollen zwar jedes Detail über ihre Nachbarn wissen, beginnen sich aber gleichzeitig vor ihnen zu fürchten. Was der Rasen so über die berichtet! Man hegt und pflegt das Gras, aber man misstraut seinen Mitmenschen. Kein Wunder, die nutzen noch immer einen Mähroboter. Das Gras weiß alles!
Nur gut, dass nicht so viele Menschen das Gras wachsen hören. Oder mit Bäumen sprechen. Wir würden uns wundern. Inzwischen ist bekannt, dass die Pflanzen im Wald tatsächlich sehr gut vernetzt sind und sich zum Beispiel vor Borkenkäfern warnen und kleinere Bäume mit Wasser versorgen. Pilze spielen eine wichtige Rolle bei dieser Kommunikation.
Aus der skadinavischen Sagenwelt
Jedenfalls gibt es mehr Beziehungen in dieser Welt, als Menschen gemeinhin wahrnehmen. Wer weiß, inwieweit sie uns tagtäglich beeinflussen. Vielleicht hören wir eines Tages wirklich das Gras wachsen und finden es heraus.
Übrigens leitet sich die Redensart "das Gras wachsen hören" von der skandinavischen Götter- und Heldensage "Edda" aus dem 13. Jahrhundert ab. Darin wird über Heimdall berichtet, den Wächter der Götter, der so gute Ohren gehabt haben soll, dass er "das Gras auf der Erde und die Wolle auf den Schafen" wachsen hören konnte.