Sonntag, 30. Juli 2023

Dafür sein

Das Ölgemälde zeigt sinnbildlich das dafür und dagegen im expressionistischem Stil
"Wofür steht ihr?“ frage ich Schüler im Alter zwischen 13 und 16 Jahren. Große Augen, langes Schweigen. „Na kommt, für irgendetwas müsst ihr doch stehen“, dränge ich. Da antwortet endlich einer: „Ich bin voll für gegen Gewalt“, meint er. Das Mädchen neben ihm ergänzt: „Und wir sind natürlich für gegen rechts.“ Der Damm ist gebrochen. Viele rufen durcheinander. Es stellt sich heraus, dass alle „für gegen“ irgendetwas sind: Handyverbot in der Schule, Klimawandel und natürlich die Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft. 

Interessant ist die sprachliche Umkehr. Das neue „dafür“ ist ein „dagegen“. Eine negativ Formulierung. Es geht nur um den Erhalt des Status quo, keinesfalls um Veränderung oder gar einen Aufbruch. Das „für“ ist ein aktiver Schritt. Ein „dagegen“ nur ein lassen. Mit anderen Worten: Um für etwas zu sein, braucht es Ideen, während das dagegen sein die Einstellung anderer negiert. Die Gesellschaft tendiert also gegenwärtig zum Aufhalten und nicht zum Machen.

Nur ein für wiedersetzt sich dem dagegen

Dabei ist ein „für“ viel spannender. Neues entdecken, wagen und ausprobieren bringt Menschen, Gruppe und ganze Gesellschaften voran. Außerdem zeigt es eine grundsätzliche Lebenseinstellung. Wer sich für etwas einsetzt beginnt gerne jeden neuen Tag, ist meist positiv gestimmt und voller Elan. Er ärgert sich nicht darüber, dass ihm vielleicht etwas weggenommen wird, sondern freut sich über das Neue, das er erreicht. Was nicht funktioniert, verwirft er und setzt seinen Weg auf einem anderen Pfad fort. Er kämpft für seine Ideen und nicht gegen das Denken von anderen. Ein himmelweiter Unterschied. 

Das gilt gleichermaßen im Privatleben, wie in Politik und Wirtschaft: Ein dagegen führt zu Stagnation, was ein noch größeres dagegen bedingt. Äußere Feinde werden erschaffen, um ein dagegen zu stärken und die eigenen Unzulänglichkeiten auf sie abzuwälzen. Ein Teufelskreis, der nur auf eine einzige Art und Weise durchbrochen werden kann – mit einem kräftigen „für“.

Fünf Tipps, wie ein Wechsel aus der „dagegen Haltung“ in eine „für Kultur“ gelingen kann:

1. Die eigene Einstellung erkennen und reflektieren: Es ist wichtig, selbst den ersten Schritt aus eigenem Wollen zu gehen. Als gutes Mittel eignet sich dabei die Beobachtung der Wortwahl. Wie oft kommt ein „dagegen“ darin vor? Außerdem verrät der Lebenswandel viel über die Einstellung eines Menschen. Baut er auf oder verwaltet er sein Leben? Ist er vielleicht aus Neid auf den Erfolg anderer gegen etwas? Oder, weil er einfach seine Ruhe haben möchte?

2. Das dagegen sein durch eine Alternative ablösen: Daran mangelt es meist. Wenn es jedoch gelingt, ist dieses Vorgehen oft erfolgreich. Wie das alkoholfreie Bier – eine Alternative für Autofahrer, die nicht auf den Biergeschmack verzichten möchten. Der Anlass dieser Innovation war die Aktion gegen Alkohol am Steuer. Gibt es im eigenen Leben Alternativen für ein bloßes dagegen sein?

3. Sprache und damit Denken verändern: Das negative Wort „dagegen“ möglichst häufig im eigenen Sprachgebrauch ersetzen. Als positive Wendungen eignen sich „für“, „alternativ“, „aufbauend“, „innovativ“, „ergänzen“ und einige mehr. Durch die Sprachwahl entstehen neue Denkmuster, die sich vorteilhaft auf die eigene Stimmung und das Handeln auswirken. 

4. Aufbau statt Ablehnung: Es ist einfach, dagegen zu sein, aber viel schwerer, etwas aufzubauen. Doch nur der Aufbau hilft, das zu verändern, wogegen man sich wendet. Ein Beispiel ist China. Mit seinem Projekt der „Neuen Seidenstraße“ baut das Land auf. Wenn auch umstritten, ist es eine wirkmächtige Idee, durch die China die bisherige Vormachtstellung der westliche Welt zurückdrängt. 

5. Menschen, die gegen etwas sind, für eine Idee gewinnen: Das ist der möglicherweise schwerste Schritt. Aber er ist notwendig, um die Stimmung einer Gruppe aufzuhellen und damit auch ihr Verhalten. Eine Menge Menschen wollen sich aufregen und ärgern. Sie schimpfen gerne über alles. Sie zu motivieren und zu begeistern für eine Sache einzustehen, kann ungeheure Energie freisetzen und vieles positiv verändern.

Auf zu neuen Ufern

Diese fünf Tipps können helfen, aus der negativen Haltung des dagegen seins auszubrechen und zu einem Macher zu werden, der für Ideen kämpft, anstatt nur die Einstellung anderer abzulehnen. Wer strikt gegen etwas ist, will hauptsächlich bewahren und erkennt nicht, dass die Zeit längst abgelaufen ist. Ein dafür sein ist meist der Aufbruch zu neuen Ufern. Dort warten meist interessante Ideen, spannende Erkenntnisse, kluge Menschen und aufregende Möglichkeiten. Die Gefahren sind nicht zu unterschätzen – die Chancen überwiegen jedoch meist. 

Teilt eure Erfahrungen mit dem dagegen und dafür sein gerne in den Kommentaren.

Donnerstag, 27. Juli 2023

Individualität ist Illusion

Menschen als schwarze Silhouette stehen vor einem Kino in pink
Eine Gruppe Menschen steht vor dem Kino. Hosen, Shirts und Kleider - alles pink. Strahlende Gesichter, Erinnerungen werden ausgetauscht. "Ich hatte den Reitstall und den Camper", sagt eine ältere Frau. "Das Haus und die Küche waren traumhaft", nickt eine andere. Momentaufnahmen im Vorbeigehen. Doch auch dem zufälligen Beobachter ist sofort klar: Die Leute haben gerade den Barbie-Film gesehen.

Historische Abschnitte

Woher kommt diese Gewissheit, ausgelöst von Wortfetzen und Farbsignalen? Sie ist Teil unserer kulturellen Identität. Geprägt durch gemeinsame Erinnerungen und ähnliche Erlebnisse in einer konformen Gesellschaft innerhab eines sich überschneidenden Zeitrahmens. Mit anderen Worten: Wir Menschen sind gar nicht so individuell, wie wir denken. Wer in einen historischen Abschnitt hineingeboren wird, ist beeinflusst von besonderen Ereignissen und Lebensumständen.

Kollektives Gedächtnis und vermeintliche Einzigartigkeit

Insbesondere in der heutigen medialen Massengesellschaft verbreiten sich Ansichten und Meinungen gleichmäßig über alle Regionen und durch jede gesellschaftliche Schichte. Gleichaltrige sind mit derselben Fernsehwerbung aufgewachsen, kennen dieselben Witze, tanzen zur selben Musik und verfügen über eine große Sammlung gemeinsamer geschichtlicher Erinnerungen. Neu ist seit der Entstehung der Kulturindustrie die Ausweitung des kollektiven Gedächtnisses auf große Gruppen, die sich als Nationen verstehen. Mit der Globalisierung durchmischen sich diese Gruppen einerseits vor allem auf virtueller Ebene. Doch schließen sie sich in der realen Welt oftmals auch aus. Menschen sind neugierig aufeinander und haben voreinander Angst. Sie fühlen sich in der Masse wohl, betonen aber ihre Individualität.

Je mehr sich Menschen vernetzen, müssen sie jedoch erkennen, dass ihre Individualität nur eine vermeintliche Einzigartigkeit ist. Als Kind glaubt jeder, der eigene Name, die Gedanken, die ihm durch den Kopf gehen, die besonderen Rituale in der Familie seien exklusiv. Das ist nicht der Fall. Das Internet zeigt jeden Tag, wie oft jede Idee gedacht, jede Stimmung durchlebt wird, wie viele Menschengruppen in pink gerade vor einem Kino stehen und in Erinnerungen an ihre Barbiewelt schwelgen.

Flucht aus der Barbiewelt

Wir wissen das, wollen es aber nicht wahrhaben. Die Menschen sind ambivalent, was ihre Zugehörigkeit zur Menschheit betrifft. Sie möchten eins sein, aber als Einzelne wahrgenommen werden. Deshalb wählen Frauen für Veranstaltungen mit Bedacht ihre Kleider aus und sind enttäuscht, wenn eine andere dasselbe Kleid trägt. Darum lassen sich immer mehr Leute tätowieren. Sie wollen ihrer Individualität Ausdruck verleihen, nur um festzustellen, dass tausende Andere es ihnen gleichtun. Es gibt kein Entrinnen vor der Gleichartigkeit, weil wir in unserer Zeit ähnliche Lebensumstände vorfinden, ähnliche Erfahrungen machen, weshalb wir auch ähnlich denken und fühlen.

Oder gibt es doch einen Ausweg aus dieser Barbiewelt, die wir uns selbst erschaffen? Viele Menschen fühlen sich in der Geborgenheit der Masse wohl. Ihnen genügen kleine Beweise für ihre Individalität, wie ein Schmuckstück oder eine Wesensart, die in ihrer Gruppe nur mit ihnen in Verbindung gebracht wird. Sie sind glücklich, eingebunden zu sein und aufgrund äußerer Merkmale als Person erkannt zu werden. Wer aber die Flucht aus der Barbiewelt antreten will, der muss sehr, sehr weit nach vorne laufen. Die Avantgarde ist zwar eine einsame Position, dafür kann sie für sich tatsächlich Einzigartigkeit in Anspruch nehmen. Allerdings nur kurze Zeit. Denn die Vorläufer werden eingeholt und kopiert, bis auch sie wieder in der Masse untergehen. Selbst der erste Mensch auf dem Mond durfte sich nicht lange seiner Einzigartigkeit rühmen. Nach ihm landeten alsbald andere Astronauten und hinterließen ebenfalls ihr Fußabdrücke auf dem Erdtrabanten.

Diese Lehre immerhin vermittelt uns der Barbie-Film: Individualität ist Illusion. Bildlich gesprochen laufen wir alle in pinken Outfits durch die Welt. Aber manche Kleider haben einen Kragen, andere sind ärmellos und die Längen variieren auch. Wem das nicht ausreicht, der kann es ja mit Blau oder Grün probieren. Aber nicht über die schiefen Blicke und das Gerede hinter vorgehaltener Hand wundern. Das gibt sich. Irgendwann wechseln alle die Farbe ihrer Kleidung.

Montag, 24. Juli 2023

Weshalb uns Verzicht schwerfällt

In Aquarelltechnik gemalte Menschen in einem Kaufhaus, die an Waren vorbeiströmen und sie dabei neugierig beäugen.
Eines Tages setzte ich mir in den Kopf, eine Smartwatch zu kaufen. Ich hatte sie bei Freunden gesehen und sie gefiel mir. Den Vorteil sah ich vor allem darin, nicht fortwährend mein mobiles Telefon aus der Tasche ziehen zu müssen, um Mails und andere Nachrichten zu checken. Doch im Geschäft kamen mir Zweifel. Nicht nur der Preis, sondern auch Gewicht und Größe sagten mir nicht zu. Brauche ich wirklich dieses Gerät? Ich begann mich zu informieren - und je mehr ich las, desto weniger überzeugte mich die Smartwacht noch. Doch der Wunsch, eine solche Uhr zu besitzen, saß tief in mir. Also gab ich nach und betrat ein paar Tage später mit der festen Absicht, den Kauf diesmal zu tätigen, einen zweiten Laden. Der Verkäufer pries die Smartwatch mit den Worten an: "Die kann wirklich alles, was auch ihr mobiles Telefon kann." Wozu, dachte ich in diesem Moment bei mir, brauche ich sie dann. Ich verließ das Geschäft mit dem guten Gefühl, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.

Warum fällt es schwer, zu verzichten?

Seitdem rumort es in mir. Ich komme nicht darüber hinweg. Manchmal ertappe ich mich, wie ich mir vorstelle, eine Smartwatch am Handgelenk zu tragen. Dabei besitze ich eine gute analoge Uhr. Und meine Argumente sind richtig, sagt mir meine Vernunft. Ich brauche keine Smartwatch. Dennoch. Ich hätte so gerne eine, meint eine andere Stimme. Quatsch, antwortet die Vernunft, sie hat keinerlei Nutzen für dich. Diese Auseinandersetzung mit mir selbst führe ich tagelang. Wenn ich denke, es ist vorbei, flackert der Wunsch unverhofft wieder auf. Zum Beispiel neulich, als mir jemand stolz seine Smartwatch vorführte. Nein, sage ich mir dann, du brauchst das Ding nicht. Aber ich gebe zu, es fällt mir schwer, darauf zu verzichten.

Sozialer Druck zwingt zu Konsum

Weshalb? Der Verzicht ist für mich die richtige Entscheidung. Oder doch nicht? Hinter der Smartwatch, diesem Gerät aus unserer Dingwelt, steckt eindeutig mehr, als nur eine intelligente Maschine. Seine Technik ist eine Maske. In Wirklichkeit verbinde ich damit Teilhabe und einen Zuwachs meiner Bedeutung in der Welt. Verzicht ist gleichzusetzen mit Ausschluss aus der Achtung gebietenden Dingwelt unserer Gesellschaft. Wer nicht ausreichend Gemeinsamkeiten vorweisen kann, gehört nicht dazu. Zum Beispiel ist es fast unmöglich, ohne mobiles Telefon unterwegs zu sein. Arbeit, Familie, Freunde - alles hängt inzwischen an der ständigen Erreichbarkeit.

Es gibt ihn, den sozialen Druck. Viele Frauen fühlen sich nicht wohl, ungeschminkt aus dem Haus zu gehen. Sie spüren fragende Blicke, hören abfällige Bemerkungen, erleben Ablehnung. Deshalb jagen wir Trends nach. Wir wollen dazu gehören. Dieser Gruppenzwang steuert ein Großteil unseres Konsumverhaltens. Deshalb möchte ich unbedingt eine Samrtwatch haben. Sie ist für mich mehr als nur eine Uhr. Meine Vorstellung suggeriert mir gesteigertes Ansehen und Machtzuwachs. Mein Bekanntenkreis erweitert sich, weil ich dazugehöre. Menschen nehmen mich verstärkt wahr. Weil ich noch erreichbarer bin, fallen mir neue Aufträge zu. Wegen einer einzigen Smartwatch dreht sich die Welt plötzlich um mich.

Ein Kreislauf der materiellen Wünsche

Ernst Bloch hat über solche Tagträume in seinem Werk "Das Prinzip Hoffnung" philosophiert. Wir brauchen sie, um unseren Platz in der Welt zu finden. Aber wir sollten uns nicht zu sehr von ihnen im täglichen Leben lenken oder gar hindern lassen. Sie sind weder wirklich, noch realistisch. Ihre Nichterfüllung macht uns missmutig. Deshalb hält die Freude an einem neuen Ding meist nicht lange an. Die ersten Nachrichten auf der Smartwatch hätten mich wohl hocherfreut. Dann würde das Ding an meinem Handgelenk Routine. Bald wäre klar, dass es zwar seine technische Funktion erfüllt, nicht aber mein soziales Verlangen. Ich spüre keinen Zuwachs an Bedeutung und verliere das Interesse an dem Ding. Vielmehr: In mir wächst das Gefühl, ich brauche unbedingt ein neues Ding, mit dem sich meine Träume erfüllen. 

Die Menschen in unseren modernen Gesellschaften bewegen sich in einem Kreislauf der materiellen Wünsche. Konsumieren steigert das Selbstbewusstsein. Zumindest für kurze Zeit. Das macht Verzicht fast unmöglich. Der soziale Druck von außen sowie die Tagträume in uns drängen die Menschen zu immer neuen Anschaffungen. Der Wirtschaft ist es recht. Deshalb befördert sie das Verlangen durch Marketing und Werbung. Doch macht der Konsum die Menschen zufriedener?

Verzicht schenkt uns neue Möglichkeiten

Sicher für eine gewisse Spanne. Dann folgen Ernüchterung und das nächste Bedürfnis. Verzicht ist dagegen dauerhaft. Klar, wir besitzen ein Ding nicht. Da ist eine Lücke. Die Kunst besteht darin, diese Lücke sinnvoll zu füllen. Was hätten wir ausgegeben, um irgendein Ding zu kaufen? Für das Geld können wir Freunde einladen, gemeinsam ein Event besuchen, ein Abenteuer erleben. Oder wir nutzen die Zeit, die wir uns ansonsten mit dem neuen Ding beschäftigt hätten, um endlich wieder ein Buch zu lesen, einen Spaziergang zu machen oder eine Ausstellung zu besuchen.

Vermutlich werden wir feststellen, dass all diese Aktivitäten uns mehr Bedeutung schenken, mehr Freude sowie den einen oder anderen neuen Kontakt. Netzwerke werden in unserer Welt immer wichtiger. Die bauen wir nicht über Dinge auf, sondern indem wir in die Welt gehen und Leute kennenlernen. Das Zauerwort heißt "Face to Face". Wie sonst kann man heutzutage noch darauf vertrauen, mit realen Menschen zusammenzukommen und nicht mit irgendeinem menschengleichen Avatar, der von einer künstlichen Intelligenz erschaffen wurde.

Verzicht führt also nicht ins Unglück. Aber er sollte gekonnt ausgeführt werden. Nicht jeder Verzicht ist sinnvoll. Verzichten wir beispielsweise auf Essen, Trinken oder Schlaf, bekommt uns das schlecht. Manche Grundlagen sind unverzichtbar. Die meisten Einflüsterungen der Konsumgesellschaft und unseres beeinflussten Ich sind es nicht. Niemandem fällt das aber leicht. Doch der Lohn des Verzichts ist die Stärkung unseres Selbst auf der Suche nach unserem eigenen Weg durch das Leben. 

Manchmal, seltener inzwischen, denke ich noch daran, wie schön es wäre, eine Smartwatch zu tragen. Dann lächle ich, schüttle den Kopf und schreibe darüber.

Samstag, 22. Juli 2023

Eine weltweite philosophische Community

Menschen versammeln sich und blicken auf die blaue Erdkugel, sie stehen kurz vor einem Aufbruch, eine fiktive Schrift steht über der Szene.
Abenteuer Philosophie ist aus der Idee heraus entstanden, sich zu philosophischen Gesprächen zu treffen. Der Blog dient als Ergänzung und Fortführung dieser Runden in der realen Welt. Er füllt die Zeit zwischen den Treffen mit Themen und Austausch - und erreicht eine größere Zielgrupppe als es bei regionalen Veranstaltungen möglich ist. Doch der Charakter des Blogs ist ähnlich: Es geht um Treffen und Austausch.

Mitgestalten erwünscht

Entsprechend bietet die Seite mittlerweile die Möglichkeit, eine Mailadresse zu hinterlassen, um an diesem philosophischen Austausch teilzunehmen. Oben öffnet sich nach einiger Zeit eine Leiste zu diesem Zweck. Bitte macht davon Gebrauch, damit die Community wächst. Weiterhin findet ihr links social Media Buttons, mit denen ihr Inhalte des Blogs in den sozialen Netzwerken teilen könnt. Schließlich entdeckt ihr rechts unten das WhatsApp Symbol. Damit könnt ihr mir direkt eine Nachricht senden, um euch mit Ideen und Themenvorschlägen an Abenteuer Philosophie zu beteiligen.

Jeder kann die Vision Wirklichkeit werden lassen

Die Vision dieses Netzwerks ist es, überall auf der Welt philosophische Treffen zu initiieren und eine weltweite philosophie Community aufzubauen. Denn nur wenn möglichst viele unterschiedliche Menschen miteinander ins Gespräch kommen, werden Gesellschaften sich annähern und verändern. Über Kulturen, Nationen und Ethnien hinweg.

Jeder kann dazu beitragen, dass diese Vision Wirklichkeit wird: Mailadresse hinterlassen, Blogbeiträge kommentieren und teilen, Ideen und Themenvorschläge einbringen, in der eigenen Umgebung einen philosophischen Gesprächskreise unter dem Label "Abenteuer Philosophie" gründen und hier auf dem Blog oder per WhatsApp darüber berichten. Oder was euch auch immer darüber hinaus einfällt.

Ich freue ich auf eine vielfältige Community, die einen offenen, sachlichen und inhaltlich spannenden Austausch pflegt. Lasst mich gerne auch wissen, was euch an diesem Blog gefällt und was aus eurer Sicht noch zu optimieren ist. Danke!

Montag, 17. Juli 2023

Ein Zug ins Nirgendwo

Ein Zug, gemalt in Öl im Stil des Impressionismus, fährt auf zusammenlaufenden Gleisen ins NIrgendwo
Ein Zug fährt von irgendwo nach nirgendwo. Offensichtlich ein Streckenabschnitt. Der Betrachter sieht die vorbeirauschenden Waggons. Aber er weiß nichts von der Abfahrt oder Ankunft des Zuges. Die Reisenden in den Abteilen ahnt er nur, kann sie aber auch durch die schnell sich bewegenden Fenster nicht erkennen. Die Landschaft ist karg, ganz auf die Bahnsstrecke ausgerichtet. Sie scheint nur für den Zug gemacht. Für diesen einen oder für mehrere? Der Betrachter weiß auch dies nicht, setzt aber unwillkürlich voraus, dass regelmäßig Züge auf dieser Strecke fahren.

Wir können nur hilflos spekulieren

In der Wiederholung der immer gleichen Szene liegen Abschied und Ankunft, Fern- und Heimweh, sogar Geselligkeit und Einsamkeit eng beieinander. Der Zug fährt, aber er wird niemals ankommen. Immer wieder startet er neu, verschwindet auf wunderbare Weise aus unserem Blick und taucht plötzlich am anderen Ende erneut auf. Woher kommt er, welche Runde hat er gedreht. Wir wissen es nicht und können nur hilflos spekulieren. Endlos. Oder vielmehr potentiell endlos, denn wir haben die Möglichkeit, seine Schleife jederzeit zu beenden. Was wir irgendwann auch tun.

Philosophie setzt immer wieder neu an

Dieser Zug ist ein Sinnbild für unsere gedankliche Reise in der Philosophie. Denn obwohl schon viele kluge Gedanken zu Papier gebracht wurden, beginnen wir doch immer wieder von vorne. Wir stehen kaum auf den Schultern von Riesen, weil diese Riesen im Denken ihrer Zeit gefangen waren. Auch, wenn sie darüber hinausgingen, sind ihre Gedankengebäude doch geprägt von ihren Erfahrungen. Hegel zum Beispiel definierte Freiheit als politische Freiheit, denn die Stand im 18. und 19. Jahrhundert ganz oben auf der Agenda. Gleichzeitig stellte er die damals noch übliche Sklaverei nicht in Frage. Wir können zwar heute noch von Hegel lernen, müssen ihn aber in seiner Zeit betrachten und seine Philosophie kritisch hinterfragen. Gleiches gilt selbstverständlich für alle anderen Denker. Ingeborg Bachmann brachte es folgendermaßen auf den Punkt: "Schriftsteller kommen aus der Zeit und gehen in die Zeit." Manchmal fallen sie auch aus der Zeit.

Wie der Zug setzt unsere Philosophie also immer wieder neu an, legt eine Strecke zurück, ist dann außer Sicht und startet wieder. Vielleicht nicht gänzlich von Beginn. Wie sich auch bei einem Video im Laufe der Zeit die Pixel verschieben und es sich zunächst kaum sichtbar und nach Jahren immer mehr verändert, beeeinflussen uns die Menschen, die vor uns da waren. Ihr Denken zeigt uns eine Richtung. Es beeinflusst die Wirklichkeit. Damit hat es seine Aufgabe erfüllt. Wir dagegen stehen vor der Herausforderung, in der neuen Wirklichkeit wieder mit dem Denken anzufangen.

Wir fahren weiter

Also sind es keine endlosen Wiederholungen, in denen wir denken. Wir fahren - bildlich gesprochen - nicht ständig dieselbe Strecke ab wie der Zug. Nein. Wir legen unsere Entfernung auf einem neuen Abschnitt zurück, der von den Menschen eine Generation früher geschaffen wurde. Auf diesem Weg sind wir verdammt zu fahren. Es gibt keinen anderen für uns. Es ist genau dieser eine Bereich, den wir erkunden. Danach geben wir die Verantwortung ab und unser Denken wird zuerst verblassen und dann veralten. Das Gleis ist frei für die Menschen nach uns.

Eine bedrückende Vorstellung? Ganz und gar nicht. Im Gegenteil. Wir fahren weiter - nur kennen wir unser neues Ziel nich nicht.

Ein blauer Zug fährt in diesem Gif immer und immer wieder dieselbe Strecke








Sonntag, 16. Juli 2023

Menschen im Café

Im Stil von Andy Wharhol gemaltes Porträt von zwei Menschen, die in einem Café miteinander reden
Cafés waren magische Orte. In ihnen wurde philosophiert und diskutiert. Sie dienten als Nachrichtenbörse, zum Austausch von Ideen, für Geschäftsabschlüsse und zu konspirativen Treffen. Manchen galten Cafés als dunkel und zwielichtig. Die Geheimpolizei hielt aus Angst vor revolutionären Umstrieben ein wachsames Augen auf sie. Andere sahen Cafés als Inspirationsquelle. In schlechteren Zeiten hatten Cafés einen durchaus praktischen Nutzen. Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir schrieben viele ihrer Werke auch deshalb in Pariser Cafés wie Les Deux Magots und de Flor, weil dort in der entbehrungsreichen Kriegs- und Nachkriegszeit während des Winters geheizt wurde und sie sich aufwärmen konnten.

In Cafés etablierte sich die bürgerliche Öffentlichkeit

Damals war die Tradition der Kaffeehäuser schon ein paar hundert Jahre alt. Sie verbreitete sich aus der arabischen Welt - insbesondere Kairo, Damaskus und Aleppo, die Metropolen Ägyptens, Syriens und des Irak waren für ihren Kaffee berühmt - mit den Eroberungen der Sultane. Auf europäischem Boden eröffnete 1522 das erste Kaffeehaus in Belgrad, nachdem Süleyman I. die Stadt unterworfen hatte. Kaufleute verbreiteten die Kunde vom Kaffeegenuss. Daraufhin wurde in Venedig 1647 das erste Café westlicher Prägung auf dem Markusplatz gegründet. Von dort aus war es für den Kaffee nur ein kurzer Weg in Städte wie Marseille und Paris. Im deutschsprachigen Raum entstand die erste Kaffeestube 1673 in Bremen. Die ältesten heute noch bestehenden Kaffeehäuser sind angeblich das Café Procope in Paris und das Café Prinzess in Regensburg, beide 1686 eröffnet. (Wer mehr über die Geschichte der Kaffeehäuser wissen möchte, lese bei Wikipedia nach.)

In diesem Post geht es weniger um die historische Verbreitung der Kaffeehäuser, als um deren Funktion. Denn der Kaffee war stets nur Anlass, eine dieser Institutionen zu aufzusuchen. Vor allem wurde dort geredet, diskutiert, philosophiert und gearbeitet. Es gab Cafés für Geschäftsleute, Literaten, Gelehrte, Juristen und Spieler. Wer ein Café betrat, war einfach Mensch. Geld, Adelstitel, Erfolg oder Misserfolg im Leben blieben vor der Tür. Kaffeehausbesucher trafen sich auf Augenhöhe, um über das Weltgeschehen und ihre Geschäfte zu sprechen. Das gab der Gesellschaft zuerst eine bis dato unbekannte Gemeinsamkeit und dann eine neue Richtung. Jürgen Habermas erkannte, dass sich durch die Cafés eine bürgerliche Öffentlichkeit etablieren konnte.

Ideale Treffpunkte 

Doch nicht nur das. Cafés waren eine erstklassige Brutstätte für Ideen und Innovationen. Errungenschaften, die dort ersonnen und erprobt wurden, sind das Postwesen (Gäste richteten sich Postfächer in ihrem Stammcafé ein), die erste Versicherung im Kaffeehaus Lloyd's sowie die Zeitung "Spectator", deren Redaktion anfänglich im Button's Coffee-house arbeitete. In Frankreich mutierten einige Cafés zu Varietélokalen und schufen so eine neue Unterhaltung für die Mittel- und Unterschicht.

Cafés boten von Anfang an einen neutralen öffentlichen Ort als Treffpunkt für alle möglichen Arten von Verabredungen. Gelegentlich wurde in ihnen auch Politik gemacht, wie zum Beispiel zur Zeit der Französischen Revolution. Doch vor allem kamen sich Menschen aller gesellschaftlichen Schichten näher, lernten sich kennen und schätzen.

Ein Schatten ihrer selbst

Diese Tradition war noch bis in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts verbreitet. So hielt Jean-Paul Sartre seine berühmte Pressekonferenz zur Ablehnung des Nobelpreises für Literatur 1964 im Café de Flor ab. Unter anderem dort wurde ein paar Jahrzehnte zuvor auch der Existentialismus ersonnen. Maler wie Picasso und Dali, die Schriftsteller Oscar Wilde und Ernest Hemmingway, der Regisseur Francois Truffaut und natürlich Albert Camus und Gertrude Stein gingen in den Pariser Cafés ein und aus.

Vorbei. Heutzutage sind Cafés nur noch ein Schatten ihrer selbst. Zwar bleiben sie weiterhin ein beliebter Treffpunkt, aber inzwischen stehen Kaffetrinken und Kuchenessen im Vordergrund. Verebbt die geistreichen Gespräche vergangener Tage. Künstler und Bohemiens verabreden sich eher online als in der verstaubten Atmosphäre  eines biederen Kaffeehauses. Junge Kreative sind zwar gelegentlich in Cafés zu finden, wenn es dort WLan und ausreichend Steckdosen gibt. Doch kommen sie selten miteinander ins Gespräch, sondern arbeiten meist allein an ihren technischen Geräten. So verfremden sich Cafés je nach Besuchergruppe mehr und mehr zu Freizeit- oder Büroräumen.

Gibt es Alternativen zu Cafés? Nein. Die Wahrheit ist, Menschen reden weniger miteinander. Natürlich nicht quantitativ. Täglich werden Millionen Gespräche geführt. Aber worüber? Familie, Job, Urlaub, Shoppen. Wer sich in ein Café setzt und ein wenig die Nachbartische belauscht, wird vor allem diese Themen hören, ergänzt um Krankheiten und die eine oder andere Aufregung über Dinge, die nicht funktionieren. Ein überaus beliebtes Thema ist die Verspätung der Bahn. Die Cafés heute sind ein fast perfektes Spiegelbild der Trends im Internet.

Die Renaissance der Kaffeehauskultur

Es kann nicht sein, dass unsere Gesellschaft keine anderen Gedanken hat. Wo sind all die Literaten, Philosophen und Denker hin, die einst die Cafés belebten? Sie müssen sich wieder in der Öffentlichkeit treffen. Sichtbar. Als deutliches Zeichen der Einmischung in das öffentliche Leben. Vielleicht entwickelt sich dann erneut ein Miteinander, eine echte politische Willensbildung und eine interssierte, kritisch bürgerliche Öffentlichkeit. 

Stürmt die Cafés! Die Zirkel, Netzwerkveranstaltungen und Clubs, in denen sich viele treffen, sind zu abgeschlossen. Die öffentlichen Räume müssen für die gesellschaftliche Auseinandersetzung zurückerobert werden. Wir sollten wieder miteinander ins Gespräch kommen - und das geht besonders gut in Cafés. Denn dort kann jeder mithören, dazukommen und sich einmischen. Die Menschen in unserer Gesellschaft haben sich zu sehr zurückgezogen. Ihre Gedanken äußern sie nur in privaten Runden. 

Verkehrt! Um Gehör zu finden, bedarf es Menschen, die einem Gehör schenken. Vor allem nicht immer dieselben. Ideen reifen nur in der Auseinandersetzung mit vielen verschiedenen Ansichten. Der größte Austausch gelingt in der Öffentlichkeit. 

Deshalb sollten wir unsere Zeit wieder mehr in Cafés verbringen und diesen Austausch wagen. Zu Beginn mag das ungewohnt sein. Aber die Scheu verfliegt schnell nach den ersten interessanten Gesprächen. In Cafés funktioniert es wie in der virtuellen Welt: Je mehr Follower jemand hat, desto mehr kommen hinzu. Sprich, sobald sich eine größere Gruppe im Café trifft, bleibt es nicht aus, dass andere neugierig werden und sich dazu gesellen. 

Einen Versuch ist es allemal wert. Zumal der Besuch eines Cafés gegen die viel beklagte Einsamkeit in unserer Gesellschaft hilft. Vorausgesetzt, die eigene Ausstrahlung signalisiert Offenheit. 

Also, beleben wir zusammen die ehrwürdige Tradition der Kaffeehausdebatten. Oder was ist eure Meinung dazu? Teilt sie als Kommentar mit. Ich veröffentliche auf diesem Blog auch gerne Fotos von euren Erlebnissen im Café. 

Machen wir Cafés wieder zu magischen Orten und stoßen gemeinsam die Renaissance der Kaffehauskultur an.

Donnerstag, 13. Juli 2023

Innovativer Dämmerschlaf

Buntes Aquarell: Drei Männer philosophieren in einer Bar.
Über philosophische Themen zu sprechen, ist ein echtes Abenteuer. Das zeigte sich auch bei unserer zweiten Veranstaltung "Abenteuer Philosophie live". Zwar waren wir diesmal nur zu Dritt, aber die Runde hatte es in sich. 

Das eigentliche Thema "Künstliche Intelligenz" trat bald in den Hintergrund. Obwohl es immer wieder aufflackerte. Doch es war der Einstieg in einen vielschichtigen Austausch über die politische Situation in unserem Land. Denn wie kann es sein, dass deutsche Wissenschaftler mit in vorderster Reihe auf dem Gebiet der KI stehen, ausländische Unternehmen aber das Rennen machen?

Ein Blick auf Europa lieferte zumindest einen Anhaltspunkt: Der alte Kontinent gerät zunehmend in einen innovativen Dämmerschlaf und andererseits in Aufruhr, wie das Beispiel Frankreich verdeutlicht. 

Imageschaden vermeiden

Deshalb haben wir uns damit beschäftigt, weshalb Bürger sich nicht mehr aktiv in die politische Willensbildung einbringen. Schnell wurde deutlich, wie langatmig und frustrierend es ist, Themen in einer Partei durch die Gremien bis zur Entscheidungsreife auf Bundesebene zu bringen. Nicht jeder hat das nötige Sitzfleisch und die richtigen Nerven dazu.

Politik ist gefangen zwischen Lobbyismus und Meinungsumfragen. Sie setzt schon lange keine eigenen Trends mehr. Politiker vermarkten sich hauptsächlich selbst und haben kaum Interesse an inhaltlichen Diskussionen, in denen sie möglicherweise einen Imageschaden erleiden könnten. Diese Angst wird von den sozialen Medien zusätzlich geschürt, in denen auch gegen Politiker gehetzt wird.

Weltweite philosophische Treffen

Die Menschen wieder mehr miteinander ins Gespräch zu bringen, könnte auch die politische Diskukssion beleben. Dazu trägt "Abenteuer Philosophie" mit seinem Format "Abenteuer Philosophie live" bei. Die Vision: Überall auf der Welt finden solche Treffen statt, auf denen sich die Teilnehmer über aktuelle philosophie Fragen austauschen.

Doch beginnen wir bescheiden. Unser nächstes Treffen ist für den 24. August 2023 terminiert. Wer dazu aktuell informiert erhalten möchte, hinterlässt bitte seine Maildresse im Formular oben. Themenvorschläge werden gerne berücksichtigt. Natürlich darf sich auch jeder an diesem Blog beteiligen - durch Kommentare oder Artikel. Lassen Sie von sich hören!

Dienstag, 11. Juli 2023

Philosophie und Politik

Ein faustschwingender nationalistischer Politiker ist nicht mehr zeitgemäß und muss durch kompetente Macher ersetzt werden.
Neulich wartete ich auf einen Zug. Als er endlich einfuhr, zeigte er einen anderen Ankunfsbahnhof, als gedacht. Viel näher an meinem Ziel. Freude. Zur Sicherheit fragte ich die Zugbegleiterin. "Nee, nee", antwortete sie. "Die Maschine denkt nur, es ist Sonntag, da fahren wir weiter." Leider war Montag.

Szenenwechsel. Zoomcall mit einem Unternehmer in Dubai. "Hier arbeitet die geballte Kompetenz. Menschen mit Visionen. Die sollten in Berlin das Sagen haben. Dann würde unser Land wieder vorankommen. Im Ausland lachen alle nur noch über uns."

Politik funktioniert heute nicht mehr

Ich sitze an einem Arbeitsplatz mit Blick auf die Alster. Darf ein philosophischer Blog politisch sein? frage ich mich. Dann denke ich an Platon, der forderte, der Staat solle von Philosophen gelenkt werden. Vielleicht muss ein philosophischer Blog politisch sein.

Die Frage ist: Warum funktioniert Politik heute nicht mehr? Oder positiv formuliert: Wie kann Politik heute funktionieren? 

Herausforderung ist die globalisierte Welt. Die Macht von Poitikern endet an Staatsgrenzen. Doch viele Bürger leben weit darüber hinaus. Sie sind nicht festgelegt in ihrem Wirkungskreis. Das gilt genauso für Unternehmen. War das nicht immer schon so? In Ansätzen sicher. Die Mögichkeiten sind heute aber wesentlich vielseitiger und die Menschen ungleich mobiler. Sie kehren ihrem Land den Rücken, weil sie anderswo bessere Bedingungen für sich vorfinden. 

Bürger kehren den Staaten den Rücken

Auch die Bürger, die bleiben, kehren ihrem Land mehr und mehr den Rücken zu. Passiv, indem sie zum Beispiel ehrenamtliches Engagement verweigern. Ihr Land ist es in ihren Augen nicht wert, unterstützt zu werden. Diese Einstellung fördert den Aufstieg extremer Parteien und Gruppierungen. 

Die Lösung der Politiker bisher: Appelle an die Bürger. Die nützen natürlich kaum. Viele Menschen haben das Gefühl, nicht mehr in einer richtigen Demokratie zu leben. Zurecht. Bürokratie, Lobbyismus und Marketing setzen die Trends in unserer Gesellschaft, nicht die gewählten Volksvertreter. Postdemokratie, ist dafür der Fachbegriff in der Politologie.

Was tun, wenn die Zeichen deutlich auf Niedergang stehen, auch wenn es der Gesellschaft insgesamt noch sehr gut geht? Lange kann das alles in Europa nicht mehr funktionieren. Das lässt sich nicht nur an den Problemen der Bahn erkennen. 

Asimov und der Fahrstuhl

Bei Isaak Asimov gibt es in der Foundation Trilogie eine wiederkehrende Nebenhandlung, die Niedergang treffend beschreibt. Im aufstrebenen Imperium wird ein neuer Fahrstuhl eingeweiht, der mit Antigravitation läuft. Die Nutzer fallen praktisch durch den Schacht und werden in der richtigen Etage aufgefangen. Eine aufsehenerregende Neuerung. In weiteren Abschnitten beschreibt Asimov den mehr und mehr verfallenden Aufzug, der schließlich außer Betrieb gestellt wird, weil keiner mehr in der Lage ist, ihn zu warten. Die Entwicklung dauert Jahrzehnte.

Nicht anders im heutigen Europa. Krawalle in Frankreich, Brexit in England, Bahnchaos und Investitionsstau in Deutschland. Dazu Inkompetenz wie bei der Autobahnmaut. Alles hängt am seidenen Faden, so das Gefühl der Bürger.

Ängste führen in die Katastrophe

Auf der anderen Seite gibt es eine Menge innovativer Unternehmen. Viele arbeiten inzwischen zwar in anderen Regionen dieser Welt, weil sie nicht ausgebremst werden wollen. Aber es gibt sie. Wie lässt sich ihre Kompetenz nutzen?

Durch ein Umdenken der Politik. Sie muss endlich im 21. Jahrhundert ankommen. Es geht nicht mehr um Lagerbildung und Kompetenzgerangel. Deftige Reden helfen auch nicht weiter. Und schon gar nicht Besetzung von Ämtern nach Proporzerwägungen oder irgendwelchen Quoten. Out sind auch leere Floskeln und Personenwahl. Wir brauchen Visionen, konkrete Ziele und nutzbringende Kundenansprache. In diesen Bereichen kann Politik von kleinen und mittelständischen Unternehmen lernen, die sich täglich damit auseinandersetzen, wie sie Kunden gewinnen, ihnen Nutzen bieten und dadurch als zufriedene Kunden halten können. 

Diese Fragen hat sich vermutlich noch kein Staat der Welt gestellt. Doch im heutigen globalen Zeitalter wäre genau das zielführend. Europa muss seine Bürger zurückgewinnen und zugleich die großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts bewältigen. Mit den Methoden des alten Europa ist das von vornherein zum Scheitern verurteilt. Abrenzung, Ängste schüren, Alleingänge, Kämpfe gegen die eigenen Bürger führen, Veränderungen behindern und an alten Werten festhalten - all das führt in die Katastrophe. 

Pünktliche Züge mit korrekter Anzeige

Selbstverständlich sollen die Staaten ihre Bürger schützen. Aber die Sicherheit darf nicht als Ausrede für Aufrüstung und Abschottung dienen. Wenn wir aus Angst andere Menschen ablehnen, werden sich diese Menschen anderswo auf der Welt ansiedeln und dort erfolgreich sein. Es ist im Gegenteil wichtig, die Chancen der Globalisierung zu sehen. Denn Austausch hat die Menschheit immer vorangebracht. Schon die alte Seidenstraße war eine Möglichkeit, neben Waren auch Nachrichten und Informationen zu übermitteln. Warum sollte das heute anders sein?

Europa braucht eine Politik, die Chancen erkennt und visionär ergreift. Wenn die von kompetenen Unternehmern gemacht wird - warum nicht. Vielleicht ist dann auch der eine oder andere Philosoph dabei, um wie Sokrates die richtigen Fragen zu stellen, damit das Gewinnstreben der Nationen nicht zu sehr aus dem Ruder läuft.

Mein Wunsch für die nahe Zukunft ist jedenfalls bescheiden: Pünktliche Züge mit korrekter Anzeige.

Samstag, 8. Juli 2023

Mit einem Lächeln durch die Welt gehen

Ein düster dreinblickender Mann mit einem Schild in der Hand, auf dem unverständliche Forderungen in künstlicher Sprache stehen.

Neulich im Zug: Zwei Mädchen steigen ein, vielleicht 16 Jahre alt. Sie unterhalten sich über Schule und die bevorstehenden Ferien. Eine der beiden legt dabei ihren Fuß samt Schuh auf den freien Sitz neben sich. Soll ich sie auffordern, das zu unterlassen? Nein, sage ich mir, soll sie ihre Freiheit austesten. 

Wenig später stehe ich auf, um auszusteigen. Ich schnappe mir meine Tasche und falle fast auf die Mädchen, als der Zug plötzlich einen letzten Schlenker vor der Haltestelle macht. Gerade noch packe ich einen Griff. Nichts passiert.

Doch als ich zur Tür gehe, ruft mir eines der Mädchen hinterher: "Wenigstens entschuldigen hätten sie sich können!"

Daraufhin drehe ich mich um und sage in aller Ruhe: "Würdest du deinen Fuß vom Sitz nehmen?"

"Nö", ist die Antwort.

"Dann bekommst Du auch keine Entschudligung", sage ich. "Höflichkeit gegen Höflichkeit. Oder?"

In diesem Moment öffnet sich die Tür und ich höre nicht mehr, ob es eine Erwiderung gibt.

Das Leben schreibt die nachdenklichsten Geschichten

Aber die kleine Episode nagt an mir, denn sie ist typisch für das gesellschaftliche Geschehen. Es wird mit unterschiedlichen Maßstäben gemessen. Das eigene Verhalten ist auf maximal freizügiges Verhalten ausgerichtet, wärend von anderen Menschen maximale Rücksichtnahme eingefordert wird. Natürlich kollidieren die unterschiedlichen Welten fortwährend.

Höflichkeit ist nur eine oberflächliche Tugend, solange sie nicht wirklich von Herzen kommt, schreibt das Philosophie Magazin. Doch sie hilft, die Begegnung von Fremden zumindest verträglich zu gestalten. Nicht nur das: Zusammen mit Neugier und Interesse knüpft sie Freundschaften.

Höflichkeit zu fordern und sich selbst schlecht zu benehmen, funktioniert allerdings nicht. Falsche Einstellung, Thema verfehlt. Genau das ist allerdings augenblicklich besonders bei jüngeren Menschen zu beobachten. Vereinfacht ausgedrückt herrscht das Denken vor: "Ich darf alles, du darfst nichts." Woher das kommt? Die Vermutung liegt nahe: Eine Frage der Erziehung. Das ist jedoch zu kurz gegriffen.

Es gibt keine guten Vorbilder

Die Gesellschaft selbst gibt kein gutes Vorbild ab. Strukturen funktionieren kaum noch, weil es allen und jedem recht gemacht werden soll. Eine unbedachte Bemerkung kann rassistisch, sexistisch, nicht gendergemäß, anstößig oder sonstwie daneben sein. Alle dürfen sofort aufschreien, sobald irgendetwas nicht passt. Kinder drohen schon mit Rechtsanwalt und zucken wehleidig zusammen, wenn trotzdem durchgegriffen wird. Sie sind es einfach nicht mehr gewohnt, dass sie nicht ihren Willen bekommen.

Kaum anders in der Politik. Alle Parteien riefen geschlossen dazu auf, einen Kandidaten von der CDU zu wählen, um einen AfD Mann als Landrat zu verhindern. Was, bitteschön, ist das denn für eine Demokratie, in der sich Politiker nicht anders zu helfen wissen, als den Menschen Angst zu machen? Versagen auf ganzer Linie. Besonders als Vorbilder. 

Aber fassen wir uns auch an die eigene Nase. Die wenigsten Menschen in unserer Gesellschaft engagieren sich noch ehrenamtlich. Nicht einmal mehr der Hälfte der Einwohner ist dieses Land freiwillige Arbeit wert. Woran das liegt, bedarf einer repräsentativen wissenschaftlichen Untersuchung. Vermutlich sind alle zu sehr damit beschäftigt, zu komsumieren, wie es die Marktwirtschaft verlangt. Arbeit und Konsum füllen den weitaus größten Teil des Tages für die meisten Menschen. Da bleibt kaum noch Zeit für Jugendarbeit, Kommunalpolitik oder die freiwillige Feuerwehr, um nur einige Möglichkeiten zu nennen. Nachwuchs fehlt allerorten.

Scheingefechte, die ins Leere laufen

Dabei steigt die Zufriedenheit deutlich, wenn man Gutes tut. Anders als beim Kauf von Konsumartikeln, die oft schon nach wenigen Tagen in der Ecke liegen. Doch die oberflächliche Befriedigung von Wünschen ist einfacher und schneller erledigt. Ähnlich einem Suchtverhalten. Über Generationen gelernt. Von der Politik gefördert. Unsere Gesellschaft ist geprägt vom Liberalismus und seinem Projekt der kommerziellen Globalisierung. Deshalb wird staatsbürgerliches Engagement nur oberflächlich hochgehalten und ist Höflichkeit nicht besonders wichtig. 

Gleichberechtigung, Genderwahn, selbst Umweltschutz und Kampf gegen den Klimawandel sind nur Scheingefechte, die letztlich ins Leere laufen. Sobald sie dem Konsum abträglich sind, werden sie zuerst be- und dann verhindert. Deshalb hat eine rechtsextreme Partei überhaupt eine Chance. Die Menschen spüren, dass diese Konsumwelt aus dem Ruder läuft. Sie verkennen allerdings, das rechte Parteien ebenso die Gunst dieser Konsumwelt brauchen, wie die der Mitte und sogar linke. 

Heute macht es leider keinen Unterschied mehr, bei welcher Partei die Wähler ihr Kreuz setzen. Unsere Gesellschaft wird bestimmt von der Konsum- und der Kulturindustrie in Zusammenarbeit mit der im Hintergrund agierenden Bürokratie. Die Parteien haben ihre Bedeutung inzischen fast vollständig verloren und liefern nur noch eine inhaltsleere Show zur Beruhigung der Bevölkerung.

Jeder kann zur Veränderung beitragen

Natürlich stellt sich die Frage, was sich unternehmen lässt, um die Demokratie wieder zu beleben. Die Antwort führt zurück zum Anfang dieses Posts. Seien wir im ersten Schritt höflich zueinander. Das weckt Interesse an den Mitmenschen. Wir könnten miteinander ins Gespräch kommen. Der Austausch führt zum Nachdenken und das Nachdenken zu mehr Engagement. Leider ist das die Kurzfassung. Der gesellschaftliche Weg ist viel länger und dauert seine Zeit. Aber es lohnt sich, damit zu beginnen.

Jeder kann dazu beitragen. Seid höflich im Umgang miteinander und neugierig aufeinander. Erfreut euch an der Vielseitigkeit der Menschen um euch her. Ihr könnt von ihnen lernen und sie von euch. Das allein ändert auf Dauer eine Menge.

Klingt naiv? Ist es auch. Denn wie das Beispiel oben zeigt, sind wir allein schon von der Höflichkeit weit entfernt. Die gute Nachricht aber lautet: Jeder kann sofort mit dem "Projekt Höflichkeit" beginnen. Einfach aufstehen und mit einem Lächeln durch die Welt gehen. Das hilft. Versprochen.

Donnerstag, 6. Juli 2023

Momente gehen nie wieder verloren

 

Seit es die Fotogrrafie gibt, können wir Moment immer und immer wieder erleben und gehen deshalb anders damit um
Momente - flüchtige Erscheinungen, die das Leben der Menschen bereichern. Jedenfalls waren sie das früher. Heute ist ihre Flüchtigkeit verschwunden. Momente werden auf Fotos festgehalten und millionenfach geteilt. Dadurch erleben sie nicht nur eine wahre Inflation, sondern verlieren auch ihren besonderen Zauber als unwiederbringliche Erlebnisse. 

Die Welt soll teilhaben

Oft erhalten Momente den Charakter von Inszenierungen. Was ist echt, was mit Blick auf die Betrachter gestellt? Wir können es nicht mehr unterscheiden. Momente werden gemacht, um in Fotobüchern aufbewahrt oder auf großen Bildschirmen als Diashow präsentiert zu werden. 
Die  Menschen konzentrieren sich kaum noch auf ihre Momente. Sie achten nur darauf, ob eine Szene gut ausgeleuchtet und perfekt gestaltet ist. Sei es ein Essen oder ein Rendezvous - die Welt soll, oder vielleicht sogar muss, teilhaben. Das Gefühl für den Augenblick ist der Angst gewichen, nicht Teil der Öffentlichkeit zu sein.

Virtuelle Zusammentreffen gegen Einsamkeit

Die Menschen tauschen den privaten Moment gegen eine gesteigerte Wahrnehmung. Damit überhöhen sie seine Bedeutung, verringern aber gleichzeitig seine Wirksamkeit. Denn die Kraft des Moments liegt gerade in der Intimität seines Erlebens. Indem die Menschen Einblick in ihr Leben geben, berauben sie sich ihres Rückzugsortes. Sie kommen kaum zur Ruhe. Ihre Gedanken kreisen um den nächsten Moment, den sie präsentieren müssen.
In Form des tragbaren Computers ist die Welt heutzutage immer dabei. Das verpflichtet zur aktiven Teilnahme. Die sozialen Medien ermöglichen und organisieren das virtuelle Zusammentreffen. Mehr noch, sie fordern immer wieder dazu auf. Sie entreißen den Menschen ihre Momente, um daran zu verdienen. Dafür versprechen sie globale Freundschaften gegen die Einsamkeit der technisierten Welt.

Ab zum nächsten Moment

Dieses Versprechen gegen das Vergessen bringt die Menschen dazu, ihr Leben mitzuteilen. Das Bedürfnis, im Netzwerk gehört zu werden ist größer als der Wunsch nach Momenten nur für sich selbst. Auf der Strecke bleiben Ruhe, Selbstbesinnung, private Erinnerungen und auch ein positives Gefühl des Alleinseins als Rückzugsort in sich selbst und Hort der Ausgeglichenheit. 
Hinzu kommt die Oberflächlichkeit, die aus der Masse an geteilten Momenten folgt. Daumen hoch, Herzchen, Smileys, Likes - das sind die üblichen Reaktionen. Manchmal vielleicht ein kurzer Kommentar. Ab zum nächsten Moment. Dennoch haben die Menschen das Gefühl, wahrgenommmen zu werden. Oft mehr als von Freunden und Familie im direkten Kontekt. Das liegt auch daran, weil die Menschen immer weniger Zeit zu haben glauben. Eine der Ursachen dafür ist allerdings das oftmalige Teilen ihrer täglichen Momente. 

Drei Tipps für mehr persönliche Momente

Es stellt sich also die Frage, wie sich persönliche Momente gerade heute bewahren lassen. Dazu drei einfach umzusetzende Tippe:
1. Einen privaten Raum definieren, aus dem heraus nichts geteilt wird. Das kann tatsächlich die eigene Wohnung sein, aber auch eine besondere Beschäftigung oder die Familie. Wichtig ist, sich an die eigene Beschränkung zu halten - und wenn der Enkel auch noch so süß in die Kamera blickt.
2. Ein Limit hilft, das Engagement in den sozialen Medien zu verringern. Zum Beispiel nicht mehr als drei Posts oder Tweets pro Tag zu senden oder nur eine Stunde pro Woche damit zu verbringen.
3. Das Mobiltelefon bewusst zu Hause lassen und einen schönen Tag ohne das Gerät mit Suchtgefahr verbringen. Auf diese Weise entstehen Momente, die auf keinen Fall geteilt werden können und nur in der eigenen Erinnerung existieren. Diese Momente sind im Rückblick besonders wertvoll.
Gibt es noch andere Möglickeiten, private Momente für sich ganz persönlich zu bewahren? Vermerken Sie Ihre Tipps gerne im Kommentarfeld.

Samstag, 1. Juli 2023

Körper und Geist gehen getrennte Wege

Körper und Geist gehen in unserer modernen Gesellschaft oft getrennte Wege.
"Lesen ist doch so wichtig", sagt eine ältere Dame unvermittelt im Zug mit Blick auf den jungen Mann neben ihr, der an seinem Notebook abwechselnd spielt, einen Job sucht und dabei telefoniert. "Bücher lesen, meine ich", ergänzt sie lächelnd. Doch der junge Mann reagiert nicht darauf. Vielleicht hat er sie schlichtweg überhört.

Das ist sicher eine der sichtbaren Erscheinungen unserer heutigen modernen Zeit: Bücher und Zeitungen verschwinden aus dem öffentllichen Raum. Haben früher in der Bahn die meisten Reisenden gelesen, sind nun Mobiltelefonie das häufigst genutzte Equipment. Kein Rascheln beim Umblättern der Zeitungen, kein Seufzer am Ende eines Romans. Nur das helle Licht der Bildschirme und durcheinander gemengte Stimmschnipsel von Telefongesprächen. Gelesen wird, wenn überhaupt noch, im stillen Kämmerlein. Vielleicht vor dem Einschlafen.

Das Smartdevice ist der Faustkeil der modernen Zeit

Verkehrte Welt. Das Private wird öffentlich, während er öffentliche Diskurs über aktuelle Artikel und umstrittene Werke angesagter Autoren immer mehr verstummt. Dafür erfahren Mitreisende, welche Tabletten Tante Erna nehmen muss und wie sehr Opa Emil unter Oma Olga leidet. Beziehungsprobleme werden im Abteil am Telfon besprochen und so manche Trennung bekommt der peinlich berührte Nebenmann zwangsläufig mit - auch wenn er sich wünscht, das Gespräch wie ein Radio abschalten zu können. Aber was ist ein Radio? Wer kennt das noch? Heute wird gestreamt und das Smartdevice, das vor Jahrtausenden noch ein einfacher Faustkeil war, verbindet uns heute mit der ganzen Welt.

Wohin der Faustkeil uns führte, ist hinlänglich bekannt. Doch wohin führt das Mobiltelefon die Menschheit? Einstweilen führt es uns fort - vom Lesen, von langen gedankenverlorenen Blicken aus dem Fenster, von Gesprächen mit zufällilgen Bekanntschaften. Unser Körper reisen umher, doch unser Geist schlägt eine andere Route ein.

Die meisten Menschen sind heute doppelt unterwegs

Wir leben in einer Zeit, in der Körper und Geist oft getrennte Wegen gehen. Der eine im Hier und Jetzt, der andere im virtuellen Irgendwo. Der Zug wird vom öffentlichen Raum, einem Ort der Begegnung, zu einer reinen Transportkabine degradiert. Und das ist nicht die einzige Herabstufung. Die Mitmenschen entwickeln sich von Gesprächspartnern zu Followern. Ihr Wert bemisst sich nach den Likes, die sie verteilen. 

In der virtuellen Welt werden Menschen damit zu Objekten, deren Aufgabe es ist, Zahlen zu erzeugen, um mehr Objekte zu binden. Kommunikation verarmt, weil es nur darum geht, Häkchen, Sterne oder vergleichbare Symbole zu setzen. Selbst Kommentare dienen vor allem der messbaren Interaktion.

Ein Gegenentwurf zur digitalen Welt

Diese Messbarkeit ist der stärkste Unterschied zwischen der virtuellen und der realen Welt. Jeder Schritt ist nachvollziehbar. Die Datenspur führt durch unser aller Leben und die Masse der Datenspuren durchleuchtet die Gesellschaft. Deshalb wird die Welt im Eiltempo digital. Sie lässst sich auf diese Weise bis ins Kleinste analysieren. Vielleicht wollen die Menschen dadurch ihre Urangst vor der Dunkelheitt bekämpfen. Jedenfalls bringt die Digitalisierung Licht auch in den kleinsten Winkel unseres Daseins. Mehr Objekt geht nicht. Während Kühe ihrer Milch wegen gemolken werden, saugt das Internet den Menschen die Daten aus. Deshalb sollen wir es möglichst ständig nutzen.

Der Gegenentwurf sollte also heißen: Lest mehr Zeitungen und Bücher, trefft euch, redet darüber, vor allem: Lasst eure Mobiltelefone dabei ausgeschaltet! Führt Körper und Geist wieder zusammmen, indem ihr beieinander seid. Zum Beispiel auch bei philosophischen Gesprächen. Berichtet darüber. Ladet neue Leute ein. Nutzt die digitalen Möglichkeiten, um die reale Welt zu beleben. 

Ich freue mich über eure Ideen und Kommentare. Wie wäre es mit einer Buchempfehlung oder Terminen zu euren Veranstaltungen?