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Sonntag, 16. Juli 2023

Menschen im Café

Im Stil von Andy Wharhol gemaltes Porträt von zwei Menschen, die in einem Café miteinander reden
Cafés waren magische Orte. In ihnen wurde philosophiert und diskutiert. Sie dienten als Nachrichtenbörse, zum Austausch von Ideen, für Geschäftsabschlüsse und zu konspirativen Treffen. Manchen galten Cafés als dunkel und zwielichtig. Die Geheimpolizei hielt aus Angst vor revolutionären Umstrieben ein wachsames Augen auf sie. Andere sahen Cafés als Inspirationsquelle. In schlechteren Zeiten hatten Cafés einen durchaus praktischen Nutzen. Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir schrieben viele ihrer Werke auch deshalb in Pariser Cafés wie Les Deux Magots und de Flor, weil dort in der entbehrungsreichen Kriegs- und Nachkriegszeit während des Winters geheizt wurde und sie sich aufwärmen konnten.

In Cafés etablierte sich die bürgerliche Öffentlichkeit

Damals war die Tradition der Kaffeehäuser schon ein paar hundert Jahre alt. Sie verbreitete sich aus der arabischen Welt - insbesondere Kairo, Damaskus und Aleppo, die Metropolen Ägyptens, Syriens und des Irak waren für ihren Kaffee berühmt - mit den Eroberungen der Sultane. Auf europäischem Boden eröffnete 1522 das erste Kaffeehaus in Belgrad, nachdem Süleyman I. die Stadt unterworfen hatte. Kaufleute verbreiteten die Kunde vom Kaffeegenuss. Daraufhin wurde in Venedig 1647 das erste Café westlicher Prägung auf dem Markusplatz gegründet. Von dort aus war es für den Kaffee nur ein kurzer Weg in Städte wie Marseille und Paris. Im deutschsprachigen Raum entstand die erste Kaffeestube 1673 in Bremen. Die ältesten heute noch bestehenden Kaffeehäuser sind angeblich das Café Procope in Paris und das Café Prinzess in Regensburg, beide 1686 eröffnet. (Wer mehr über die Geschichte der Kaffeehäuser wissen möchte, lese bei Wikipedia nach.)

In diesem Post geht es weniger um die historische Verbreitung der Kaffeehäuser, als um deren Funktion. Denn der Kaffee war stets nur Anlass, eine dieser Institutionen zu aufzusuchen. Vor allem wurde dort geredet, diskutiert, philosophiert und gearbeitet. Es gab Cafés für Geschäftsleute, Literaten, Gelehrte, Juristen und Spieler. Wer ein Café betrat, war einfach Mensch. Geld, Adelstitel, Erfolg oder Misserfolg im Leben blieben vor der Tür. Kaffeehausbesucher trafen sich auf Augenhöhe, um über das Weltgeschehen und ihre Geschäfte zu sprechen. Das gab der Gesellschaft zuerst eine bis dato unbekannte Gemeinsamkeit und dann eine neue Richtung. Jürgen Habermas erkannte, dass sich durch die Cafés eine bürgerliche Öffentlichkeit etablieren konnte.

Ideale Treffpunkte 

Doch nicht nur das. Cafés waren eine erstklassige Brutstätte für Ideen und Innovationen. Errungenschaften, die dort ersonnen und erprobt wurden, sind das Postwesen (Gäste richteten sich Postfächer in ihrem Stammcafé ein), die erste Versicherung im Kaffeehaus Lloyd's sowie die Zeitung "Spectator", deren Redaktion anfänglich im Button's Coffee-house arbeitete. In Frankreich mutierten einige Cafés zu Varietélokalen und schufen so eine neue Unterhaltung für die Mittel- und Unterschicht.

Cafés boten von Anfang an einen neutralen öffentlichen Ort als Treffpunkt für alle möglichen Arten von Verabredungen. Gelegentlich wurde in ihnen auch Politik gemacht, wie zum Beispiel zur Zeit der Französischen Revolution. Doch vor allem kamen sich Menschen aller gesellschaftlichen Schichten näher, lernten sich kennen und schätzen.

Ein Schatten ihrer selbst

Diese Tradition war noch bis in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts verbreitet. So hielt Jean-Paul Sartre seine berühmte Pressekonferenz zur Ablehnung des Nobelpreises für Literatur 1964 im Café de Flor ab. Unter anderem dort wurde ein paar Jahrzehnte zuvor auch der Existentialismus ersonnen. Maler wie Picasso und Dali, die Schriftsteller Oscar Wilde und Ernest Hemmingway, der Regisseur Francois Truffaut und natürlich Albert Camus und Gertrude Stein gingen in den Pariser Cafés ein und aus.

Vorbei. Heutzutage sind Cafés nur noch ein Schatten ihrer selbst. Zwar bleiben sie weiterhin ein beliebter Treffpunkt, aber inzwischen stehen Kaffetrinken und Kuchenessen im Vordergrund. Verebbt die geistreichen Gespräche vergangener Tage. Künstler und Bohemiens verabreden sich eher online als in der verstaubten Atmosphäre  eines biederen Kaffeehauses. Junge Kreative sind zwar gelegentlich in Cafés zu finden, wenn es dort WLan und ausreichend Steckdosen gibt. Doch kommen sie selten miteinander ins Gespräch, sondern arbeiten meist allein an ihren technischen Geräten. So verfremden sich Cafés je nach Besuchergruppe mehr und mehr zu Freizeit- oder Büroräumen.

Gibt es Alternativen zu Cafés? Nein. Die Wahrheit ist, Menschen reden weniger miteinander. Natürlich nicht quantitativ. Täglich werden Millionen Gespräche geführt. Aber worüber? Familie, Job, Urlaub, Shoppen. Wer sich in ein Café setzt und ein wenig die Nachbartische belauscht, wird vor allem diese Themen hören, ergänzt um Krankheiten und die eine oder andere Aufregung über Dinge, die nicht funktionieren. Ein überaus beliebtes Thema ist die Verspätung der Bahn. Die Cafés heute sind ein fast perfektes Spiegelbild der Trends im Internet.

Die Renaissance der Kaffeehauskultur

Es kann nicht sein, dass unsere Gesellschaft keine anderen Gedanken hat. Wo sind all die Literaten, Philosophen und Denker hin, die einst die Cafés belebten? Sie müssen sich wieder in der Öffentlichkeit treffen. Sichtbar. Als deutliches Zeichen der Einmischung in das öffentliche Leben. Vielleicht entwickelt sich dann erneut ein Miteinander, eine echte politische Willensbildung und eine interssierte, kritisch bürgerliche Öffentlichkeit. 

Stürmt die Cafés! Die Zirkel, Netzwerkveranstaltungen und Clubs, in denen sich viele treffen, sind zu abgeschlossen. Die öffentlichen Räume müssen für die gesellschaftliche Auseinandersetzung zurückerobert werden. Wir sollten wieder miteinander ins Gespräch kommen - und das geht besonders gut in Cafés. Denn dort kann jeder mithören, dazukommen und sich einmischen. Die Menschen in unserer Gesellschaft haben sich zu sehr zurückgezogen. Ihre Gedanken äußern sie nur in privaten Runden. 

Verkehrt! Um Gehör zu finden, bedarf es Menschen, die einem Gehör schenken. Vor allem nicht immer dieselben. Ideen reifen nur in der Auseinandersetzung mit vielen verschiedenen Ansichten. Der größte Austausch gelingt in der Öffentlichkeit. 

Deshalb sollten wir unsere Zeit wieder mehr in Cafés verbringen und diesen Austausch wagen. Zu Beginn mag das ungewohnt sein. Aber die Scheu verfliegt schnell nach den ersten interessanten Gesprächen. In Cafés funktioniert es wie in der virtuellen Welt: Je mehr Follower jemand hat, desto mehr kommen hinzu. Sprich, sobald sich eine größere Gruppe im Café trifft, bleibt es nicht aus, dass andere neugierig werden und sich dazu gesellen. 

Einen Versuch ist es allemal wert. Zumal der Besuch eines Cafés gegen die viel beklagte Einsamkeit in unserer Gesellschaft hilft. Vorausgesetzt, die eigene Ausstrahlung signalisiert Offenheit. 

Also, beleben wir zusammen die ehrwürdige Tradition der Kaffeehausdebatten. Oder was ist eure Meinung dazu? Teilt sie als Kommentar mit. Ich veröffentliche auf diesem Blog auch gerne Fotos von euren Erlebnissen im Café. 

Machen wir Cafés wieder zu magischen Orten und stoßen gemeinsam die Renaissance der Kaffehauskultur an.