Sonntag, 30. Juli 2023

Dafür sein

Das Ölgemälde zeigt sinnbildlich das dafür und dagegen im expressionistischem Stil
"Wofür steht ihr?“ frage ich Schüler im Alter zwischen 13 und 16 Jahren. Große Augen, langes Schweigen. „Na kommt, für irgendetwas müsst ihr doch stehen“, dränge ich. Da antwortet endlich einer: „Ich bin voll für gegen Gewalt“, meint er. Das Mädchen neben ihm ergänzt: „Und wir sind natürlich für gegen rechts.“ Der Damm ist gebrochen. Viele rufen durcheinander. Es stellt sich heraus, dass alle „für gegen“ irgendetwas sind: Handyverbot in der Schule, Klimawandel und natürlich die Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft. 

Interessant ist die sprachliche Umkehr. Das neue „dafür“ ist ein „dagegen“. Eine negativ Formulierung. Es geht nur um den Erhalt des Status quo, keinesfalls um Veränderung oder gar einen Aufbruch. Das „für“ ist ein aktiver Schritt. Ein „dagegen“ nur ein lassen. Mit anderen Worten: Um für etwas zu sein, braucht es Ideen, während das dagegen sein die Einstellung anderer negiert. Die Gesellschaft tendiert also gegenwärtig zum Aufhalten und nicht zum Machen.

Nur ein für wiedersetzt sich dem dagegen

Dabei ist ein „für“ viel spannender. Neues entdecken, wagen und ausprobieren bringt Menschen, Gruppe und ganze Gesellschaften voran. Außerdem zeigt es eine grundsätzliche Lebenseinstellung. Wer sich für etwas einsetzt beginnt gerne jeden neuen Tag, ist meist positiv gestimmt und voller Elan. Er ärgert sich nicht darüber, dass ihm vielleicht etwas weggenommen wird, sondern freut sich über das Neue, das er erreicht. Was nicht funktioniert, verwirft er und setzt seinen Weg auf einem anderen Pfad fort. Er kämpft für seine Ideen und nicht gegen das Denken von anderen. Ein himmelweiter Unterschied. 

Das gilt gleichermaßen im Privatleben, wie in Politik und Wirtschaft: Ein dagegen führt zu Stagnation, was ein noch größeres dagegen bedingt. Äußere Feinde werden erschaffen, um ein dagegen zu stärken und die eigenen Unzulänglichkeiten auf sie abzuwälzen. Ein Teufelskreis, der nur auf eine einzige Art und Weise durchbrochen werden kann – mit einem kräftigen „für“.

Fünf Tipps, wie ein Wechsel aus der „dagegen Haltung“ in eine „für Kultur“ gelingen kann:

1. Die eigene Einstellung erkennen und reflektieren: Es ist wichtig, selbst den ersten Schritt aus eigenem Wollen zu gehen. Als gutes Mittel eignet sich dabei die Beobachtung der Wortwahl. Wie oft kommt ein „dagegen“ darin vor? Außerdem verrät der Lebenswandel viel über die Einstellung eines Menschen. Baut er auf oder verwaltet er sein Leben? Ist er vielleicht aus Neid auf den Erfolg anderer gegen etwas? Oder, weil er einfach seine Ruhe haben möchte?

2. Das dagegen sein durch eine Alternative ablösen: Daran mangelt es meist. Wenn es jedoch gelingt, ist dieses Vorgehen oft erfolgreich. Wie das alkoholfreie Bier – eine Alternative für Autofahrer, die nicht auf den Biergeschmack verzichten möchten. Der Anlass dieser Innovation war die Aktion gegen Alkohol am Steuer. Gibt es im eigenen Leben Alternativen für ein bloßes dagegen sein?

3. Sprache und damit Denken verändern: Das negative Wort „dagegen“ möglichst häufig im eigenen Sprachgebrauch ersetzen. Als positive Wendungen eignen sich „für“, „alternativ“, „aufbauend“, „innovativ“, „ergänzen“ und einige mehr. Durch die Sprachwahl entstehen neue Denkmuster, die sich vorteilhaft auf die eigene Stimmung und das Handeln auswirken. 

4. Aufbau statt Ablehnung: Es ist einfach, dagegen zu sein, aber viel schwerer, etwas aufzubauen. Doch nur der Aufbau hilft, das zu verändern, wogegen man sich wendet. Ein Beispiel ist China. Mit seinem Projekt der „Neuen Seidenstraße“ baut das Land auf. Wenn auch umstritten, ist es eine wirkmächtige Idee, durch die China die bisherige Vormachtstellung der westliche Welt zurückdrängt. 

5. Menschen, die gegen etwas sind, für eine Idee gewinnen: Das ist der möglicherweise schwerste Schritt. Aber er ist notwendig, um die Stimmung einer Gruppe aufzuhellen und damit auch ihr Verhalten. Eine Menge Menschen wollen sich aufregen und ärgern. Sie schimpfen gerne über alles. Sie zu motivieren und zu begeistern für eine Sache einzustehen, kann ungeheure Energie freisetzen und vieles positiv verändern.

Auf zu neuen Ufern

Diese fünf Tipps können helfen, aus der negativen Haltung des dagegen seins auszubrechen und zu einem Macher zu werden, der für Ideen kämpft, anstatt nur die Einstellung anderer abzulehnen. Wer strikt gegen etwas ist, will hauptsächlich bewahren und erkennt nicht, dass die Zeit längst abgelaufen ist. Ein dafür sein ist meist der Aufbruch zu neuen Ufern. Dort warten meist interessante Ideen, spannende Erkenntnisse, kluge Menschen und aufregende Möglichkeiten. Die Gefahren sind nicht zu unterschätzen – die Chancen überwiegen jedoch meist. 

Teilt eure Erfahrungen mit dem dagegen und dafür sein gerne in den Kommentaren.

Donnerstag, 27. Juli 2023

Individualität ist Illusion

Menschen als schwarze Silhouette stehen vor einem Kino in pink
Eine Gruppe Menschen steht vor dem Kino. Hosen, Shirts und Kleider - alles pink. Strahlende Gesichter, Erinnerungen werden ausgetauscht. "Ich hatte den Reitstall und den Camper", sagt eine ältere Frau. "Das Haus und die Küche waren traumhaft", nickt eine andere. Momentaufnahmen im Vorbeigehen. Doch auch dem zufälligen Beobachter ist sofort klar: Die Leute haben gerade den Barbie-Film gesehen.

Historische Abschnitte

Woher kommt diese Gewissheit, ausgelöst von Wortfetzen und Farbsignalen? Sie ist Teil unserer kulturellen Identität. Geprägt durch gemeinsame Erinnerungen und ähnliche Erlebnisse in einer konformen Gesellschaft innerhab eines sich überschneidenden Zeitrahmens. Mit anderen Worten: Wir Menschen sind gar nicht so individuell, wie wir denken. Wer in einen historischen Abschnitt hineingeboren wird, ist beeinflusst von besonderen Ereignissen und Lebensumständen.

Kollektives Gedächtnis und vermeintliche Einzigartigkeit

Insbesondere in der heutigen medialen Massengesellschaft verbreiten sich Ansichten und Meinungen gleichmäßig über alle Regionen und durch jede gesellschaftliche Schichte. Gleichaltrige sind mit derselben Fernsehwerbung aufgewachsen, kennen dieselben Witze, tanzen zur selben Musik und verfügen über eine große Sammlung gemeinsamer geschichtlicher Erinnerungen. Neu ist seit der Entstehung der Kulturindustrie die Ausweitung des kollektiven Gedächtnisses auf große Gruppen, die sich als Nationen verstehen. Mit der Globalisierung durchmischen sich diese Gruppen einerseits vor allem auf virtueller Ebene. Doch schließen sie sich in der realen Welt oftmals auch aus. Menschen sind neugierig aufeinander und haben voreinander Angst. Sie fühlen sich in der Masse wohl, betonen aber ihre Individualität.

Je mehr sich Menschen vernetzen, müssen sie jedoch erkennen, dass ihre Individualität nur eine vermeintliche Einzigartigkeit ist. Als Kind glaubt jeder, der eigene Name, die Gedanken, die ihm durch den Kopf gehen, die besonderen Rituale in der Familie seien exklusiv. Das ist nicht der Fall. Das Internet zeigt jeden Tag, wie oft jede Idee gedacht, jede Stimmung durchlebt wird, wie viele Menschengruppen in pink gerade vor einem Kino stehen und in Erinnerungen an ihre Barbiewelt schwelgen.

Flucht aus der Barbiewelt

Wir wissen das, wollen es aber nicht wahrhaben. Die Menschen sind ambivalent, was ihre Zugehörigkeit zur Menschheit betrifft. Sie möchten eins sein, aber als Einzelne wahrgenommen werden. Deshalb wählen Frauen für Veranstaltungen mit Bedacht ihre Kleider aus und sind enttäuscht, wenn eine andere dasselbe Kleid trägt. Darum lassen sich immer mehr Leute tätowieren. Sie wollen ihrer Individualität Ausdruck verleihen, nur um festzustellen, dass tausende Andere es ihnen gleichtun. Es gibt kein Entrinnen vor der Gleichartigkeit, weil wir in unserer Zeit ähnliche Lebensumstände vorfinden, ähnliche Erfahrungen machen, weshalb wir auch ähnlich denken und fühlen.

Oder gibt es doch einen Ausweg aus dieser Barbiewelt, die wir uns selbst erschaffen? Viele Menschen fühlen sich in der Geborgenheit der Masse wohl. Ihnen genügen kleine Beweise für ihre Individalität, wie ein Schmuckstück oder eine Wesensart, die in ihrer Gruppe nur mit ihnen in Verbindung gebracht wird. Sie sind glücklich, eingebunden zu sein und aufgrund äußerer Merkmale als Person erkannt zu werden. Wer aber die Flucht aus der Barbiewelt antreten will, der muss sehr, sehr weit nach vorne laufen. Die Avantgarde ist zwar eine einsame Position, dafür kann sie für sich tatsächlich Einzigartigkeit in Anspruch nehmen. Allerdings nur kurze Zeit. Denn die Vorläufer werden eingeholt und kopiert, bis auch sie wieder in der Masse untergehen. Selbst der erste Mensch auf dem Mond durfte sich nicht lange seiner Einzigartigkeit rühmen. Nach ihm landeten alsbald andere Astronauten und hinterließen ebenfalls ihr Fußabdrücke auf dem Erdtrabanten.

Diese Lehre immerhin vermittelt uns der Barbie-Film: Individualität ist Illusion. Bildlich gesprochen laufen wir alle in pinken Outfits durch die Welt. Aber manche Kleider haben einen Kragen, andere sind ärmellos und die Längen variieren auch. Wem das nicht ausreicht, der kann es ja mit Blau oder Grün probieren. Aber nicht über die schiefen Blicke und das Gerede hinter vorgehaltener Hand wundern. Das gibt sich. Irgendwann wechseln alle die Farbe ihrer Kleidung.

Montag, 24. Juli 2023

Weshalb uns Verzicht schwerfällt

In Aquarelltechnik gemalte Menschen in einem Kaufhaus, die an Waren vorbeiströmen und sie dabei neugierig beäugen.
Eines Tages setzte ich mir in den Kopf, eine Smartwatch zu kaufen. Ich hatte sie bei Freunden gesehen und sie gefiel mir. Den Vorteil sah ich vor allem darin, nicht fortwährend mein mobiles Telefon aus der Tasche ziehen zu müssen, um Mails und andere Nachrichten zu checken. Doch im Geschäft kamen mir Zweifel. Nicht nur der Preis, sondern auch Gewicht und Größe sagten mir nicht zu. Brauche ich wirklich dieses Gerät? Ich begann mich zu informieren - und je mehr ich las, desto weniger überzeugte mich die Smartwacht noch. Doch der Wunsch, eine solche Uhr zu besitzen, saß tief in mir. Also gab ich nach und betrat ein paar Tage später mit der festen Absicht, den Kauf diesmal zu tätigen, einen zweiten Laden. Der Verkäufer pries die Smartwatch mit den Worten an: "Die kann wirklich alles, was auch ihr mobiles Telefon kann." Wozu, dachte ich in diesem Moment bei mir, brauche ich sie dann. Ich verließ das Geschäft mit dem guten Gefühl, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.

Warum fällt es schwer, zu verzichten?

Seitdem rumort es in mir. Ich komme nicht darüber hinweg. Manchmal ertappe ich mich, wie ich mir vorstelle, eine Smartwatch am Handgelenk zu tragen. Dabei besitze ich eine gute analoge Uhr. Und meine Argumente sind richtig, sagt mir meine Vernunft. Ich brauche keine Smartwatch. Dennoch. Ich hätte so gerne eine, meint eine andere Stimme. Quatsch, antwortet die Vernunft, sie hat keinerlei Nutzen für dich. Diese Auseinandersetzung mit mir selbst führe ich tagelang. Wenn ich denke, es ist vorbei, flackert der Wunsch unverhofft wieder auf. Zum Beispiel neulich, als mir jemand stolz seine Smartwatch vorführte. Nein, sage ich mir dann, du brauchst das Ding nicht. Aber ich gebe zu, es fällt mir schwer, darauf zu verzichten.

Sozialer Druck zwingt zu Konsum

Weshalb? Der Verzicht ist für mich die richtige Entscheidung. Oder doch nicht? Hinter der Smartwatch, diesem Gerät aus unserer Dingwelt, steckt eindeutig mehr, als nur eine intelligente Maschine. Seine Technik ist eine Maske. In Wirklichkeit verbinde ich damit Teilhabe und einen Zuwachs meiner Bedeutung in der Welt. Verzicht ist gleichzusetzen mit Ausschluss aus der Achtung gebietenden Dingwelt unserer Gesellschaft. Wer nicht ausreichend Gemeinsamkeiten vorweisen kann, gehört nicht dazu. Zum Beispiel ist es fast unmöglich, ohne mobiles Telefon unterwegs zu sein. Arbeit, Familie, Freunde - alles hängt inzwischen an der ständigen Erreichbarkeit.

Es gibt ihn, den sozialen Druck. Viele Frauen fühlen sich nicht wohl, ungeschminkt aus dem Haus zu gehen. Sie spüren fragende Blicke, hören abfällige Bemerkungen, erleben Ablehnung. Deshalb jagen wir Trends nach. Wir wollen dazu gehören. Dieser Gruppenzwang steuert ein Großteil unseres Konsumverhaltens. Deshalb möchte ich unbedingt eine Samrtwatch haben. Sie ist für mich mehr als nur eine Uhr. Meine Vorstellung suggeriert mir gesteigertes Ansehen und Machtzuwachs. Mein Bekanntenkreis erweitert sich, weil ich dazugehöre. Menschen nehmen mich verstärkt wahr. Weil ich noch erreichbarer bin, fallen mir neue Aufträge zu. Wegen einer einzigen Smartwatch dreht sich die Welt plötzlich um mich.

Ein Kreislauf der materiellen Wünsche

Ernst Bloch hat über solche Tagträume in seinem Werk "Das Prinzip Hoffnung" philosophiert. Wir brauchen sie, um unseren Platz in der Welt zu finden. Aber wir sollten uns nicht zu sehr von ihnen im täglichen Leben lenken oder gar hindern lassen. Sie sind weder wirklich, noch realistisch. Ihre Nichterfüllung macht uns missmutig. Deshalb hält die Freude an einem neuen Ding meist nicht lange an. Die ersten Nachrichten auf der Smartwatch hätten mich wohl hocherfreut. Dann würde das Ding an meinem Handgelenk Routine. Bald wäre klar, dass es zwar seine technische Funktion erfüllt, nicht aber mein soziales Verlangen. Ich spüre keinen Zuwachs an Bedeutung und verliere das Interesse an dem Ding. Vielmehr: In mir wächst das Gefühl, ich brauche unbedingt ein neues Ding, mit dem sich meine Träume erfüllen. 

Die Menschen in unseren modernen Gesellschaften bewegen sich in einem Kreislauf der materiellen Wünsche. Konsumieren steigert das Selbstbewusstsein. Zumindest für kurze Zeit. Das macht Verzicht fast unmöglich. Der soziale Druck von außen sowie die Tagträume in uns drängen die Menschen zu immer neuen Anschaffungen. Der Wirtschaft ist es recht. Deshalb befördert sie das Verlangen durch Marketing und Werbung. Doch macht der Konsum die Menschen zufriedener?

Verzicht schenkt uns neue Möglichkeiten

Sicher für eine gewisse Spanne. Dann folgen Ernüchterung und das nächste Bedürfnis. Verzicht ist dagegen dauerhaft. Klar, wir besitzen ein Ding nicht. Da ist eine Lücke. Die Kunst besteht darin, diese Lücke sinnvoll zu füllen. Was hätten wir ausgegeben, um irgendein Ding zu kaufen? Für das Geld können wir Freunde einladen, gemeinsam ein Event besuchen, ein Abenteuer erleben. Oder wir nutzen die Zeit, die wir uns ansonsten mit dem neuen Ding beschäftigt hätten, um endlich wieder ein Buch zu lesen, einen Spaziergang zu machen oder eine Ausstellung zu besuchen.

Vermutlich werden wir feststellen, dass all diese Aktivitäten uns mehr Bedeutung schenken, mehr Freude sowie den einen oder anderen neuen Kontakt. Netzwerke werden in unserer Welt immer wichtiger. Die bauen wir nicht über Dinge auf, sondern indem wir in die Welt gehen und Leute kennenlernen. Das Zauerwort heißt "Face to Face". Wie sonst kann man heutzutage noch darauf vertrauen, mit realen Menschen zusammenzukommen und nicht mit irgendeinem menschengleichen Avatar, der von einer künstlichen Intelligenz erschaffen wurde.

Verzicht führt also nicht ins Unglück. Aber er sollte gekonnt ausgeführt werden. Nicht jeder Verzicht ist sinnvoll. Verzichten wir beispielsweise auf Essen, Trinken oder Schlaf, bekommt uns das schlecht. Manche Grundlagen sind unverzichtbar. Die meisten Einflüsterungen der Konsumgesellschaft und unseres beeinflussten Ich sind es nicht. Niemandem fällt das aber leicht. Doch der Lohn des Verzichts ist die Stärkung unseres Selbst auf der Suche nach unserem eigenen Weg durch das Leben. 

Manchmal, seltener inzwischen, denke ich noch daran, wie schön es wäre, eine Smartwatch zu tragen. Dann lächle ich, schüttle den Kopf und schreibe darüber.