Neulich im Zug: Zwei Mädchen steigen ein, vielleicht 16 Jahre alt. Sie unterhalten sich über Schule und die bevorstehenden Ferien. Eine der beiden legt dabei ihren Fuß samt Schuh auf den freien Sitz neben sich. Soll ich sie auffordern, das zu unterlassen? Nein, sage ich mir, soll sie ihre Freiheit austesten.
Wenig später stehe ich auf, um auszusteigen. Ich schnappe mir meine Tasche und falle fast auf die Mädchen, als der Zug plötzlich einen letzten Schlenker vor der Haltestelle macht. Gerade noch packe ich einen Griff. Nichts passiert.
Doch als ich zur Tür gehe, ruft mir eines der Mädchen hinterher: "Wenigstens entschuldigen hätten sie sich können!"
Daraufhin drehe ich mich um und sage in aller Ruhe: "Würdest du deinen Fuß vom Sitz nehmen?"
"Nö", ist die Antwort.
"Dann bekommst Du auch keine Entschudligung", sage ich. "Höflichkeit gegen Höflichkeit. Oder?"
In diesem Moment öffnet sich die Tür und ich höre nicht mehr, ob es eine Erwiderung gibt.
Das Leben schreibt die nachdenklichsten Geschichten
Aber die kleine Episode nagt an mir, denn sie ist typisch für das gesellschaftliche Geschehen. Es wird mit unterschiedlichen Maßstäben gemessen. Das eigene Verhalten ist auf maximal freizügiges Verhalten ausgerichtet, wärend von anderen Menschen maximale Rücksichtnahme eingefordert wird. Natürlich kollidieren die unterschiedlichen Welten fortwährend.
Höflichkeit ist nur eine oberflächliche Tugend, solange sie nicht wirklich von Herzen kommt, schreibt das Philosophie Magazin. Doch sie hilft, die Begegnung von Fremden zumindest verträglich zu gestalten. Nicht nur das: Zusammen mit Neugier und Interesse knüpft sie Freundschaften.
Höflichkeit zu fordern und sich selbst schlecht zu benehmen, funktioniert allerdings nicht. Falsche Einstellung, Thema verfehlt. Genau das ist allerdings augenblicklich besonders bei jüngeren Menschen zu beobachten. Vereinfacht ausgedrückt herrscht das Denken vor: "Ich darf alles, du darfst nichts." Woher das kommt? Die Vermutung liegt nahe: Eine Frage der Erziehung. Das ist jedoch zu kurz gegriffen.
Es gibt keine guten Vorbilder
Die Gesellschaft selbst gibt kein gutes Vorbild ab. Strukturen funktionieren kaum noch, weil es allen und jedem recht gemacht werden soll. Eine unbedachte Bemerkung kann rassistisch, sexistisch, nicht gendergemäß, anstößig oder sonstwie daneben sein. Alle dürfen sofort aufschreien, sobald irgendetwas nicht passt. Kinder drohen schon mit Rechtsanwalt und zucken wehleidig zusammen, wenn trotzdem durchgegriffen wird. Sie sind es einfach nicht mehr gewohnt, dass sie nicht ihren Willen bekommen.
Kaum anders in der Politik. Alle Parteien riefen geschlossen dazu auf, einen Kandidaten von der CDU zu wählen, um einen AfD Mann als Landrat zu verhindern. Was, bitteschön, ist das denn für eine Demokratie, in der sich Politiker nicht anders zu helfen wissen, als den Menschen Angst zu machen? Versagen auf ganzer Linie. Besonders als Vorbilder.
Aber fassen wir uns auch an die eigene Nase. Die wenigsten Menschen in unserer Gesellschaft engagieren sich noch ehrenamtlich. Nicht einmal mehr der Hälfte der Einwohner ist dieses Land freiwillige Arbeit wert. Woran das liegt, bedarf einer repräsentativen wissenschaftlichen Untersuchung. Vermutlich sind alle zu sehr damit beschäftigt, zu komsumieren, wie es die Marktwirtschaft verlangt. Arbeit und Konsum füllen den weitaus größten Teil des Tages für die meisten Menschen. Da bleibt kaum noch Zeit für Jugendarbeit, Kommunalpolitik oder die freiwillige Feuerwehr, um nur einige Möglichkeiten zu nennen. Nachwuchs fehlt allerorten.
Scheingefechte, die ins Leere laufen
Dabei steigt die Zufriedenheit deutlich, wenn man Gutes tut. Anders als beim Kauf von Konsumartikeln, die oft schon nach wenigen Tagen in der Ecke liegen. Doch die oberflächliche Befriedigung von Wünschen ist einfacher und schneller erledigt. Ähnlich einem Suchtverhalten. Über Generationen gelernt. Von der Politik gefördert. Unsere Gesellschaft ist geprägt vom Liberalismus und seinem Projekt der kommerziellen Globalisierung. Deshalb wird staatsbürgerliches Engagement nur oberflächlich hochgehalten und ist Höflichkeit nicht besonders wichtig.
Gleichberechtigung, Genderwahn, selbst Umweltschutz und Kampf gegen den Klimawandel sind nur Scheingefechte, die letztlich ins Leere laufen. Sobald sie dem Konsum abträglich sind, werden sie zuerst be- und dann verhindert. Deshalb hat eine rechtsextreme Partei überhaupt eine Chance. Die Menschen spüren, dass diese Konsumwelt aus dem Ruder läuft. Sie verkennen allerdings, das rechte Parteien ebenso die Gunst dieser Konsumwelt brauchen, wie die der Mitte und sogar linke.
Heute macht es leider keinen Unterschied mehr, bei welcher Partei die Wähler ihr Kreuz setzen. Unsere Gesellschaft wird bestimmt von der Konsum- und der Kulturindustrie in Zusammenarbeit mit der im Hintergrund agierenden Bürokratie. Die Parteien haben ihre Bedeutung inzischen fast vollständig verloren und liefern nur noch eine inhaltsleere Show zur Beruhigung der Bevölkerung.
Jeder kann zur Veränderung beitragen
Natürlich stellt sich die Frage, was sich unternehmen lässt, um die Demokratie wieder zu beleben. Die Antwort führt zurück zum Anfang dieses Posts. Seien wir im ersten Schritt höflich zueinander. Das weckt Interesse an den Mitmenschen. Wir könnten miteinander ins Gespräch kommen. Der Austausch führt zum Nachdenken und das Nachdenken zu mehr Engagement. Leider ist das die Kurzfassung. Der gesellschaftliche Weg ist viel länger und dauert seine Zeit. Aber es lohnt sich, damit zu beginnen.
Jeder kann dazu beitragen. Seid höflich im Umgang miteinander und neugierig aufeinander. Erfreut euch an der Vielseitigkeit der Menschen um euch her. Ihr könnt von ihnen lernen und sie von euch. Das allein ändert auf Dauer eine Menge.
Klingt naiv? Ist es auch. Denn wie das Beispiel oben zeigt, sind wir allein schon von der Höflichkeit weit entfernt. Die gute Nachricht aber lautet: Jeder kann sofort mit dem "Projekt Höflichkeit" beginnen. Einfach aufstehen und mit einem Lächeln durch die Welt gehen. Das hilft. Versprochen.