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Samstag, 1. Juli 2023

Körper und Geist gehen getrennte Wege

Körper und Geist gehen in unserer modernen Gesellschaft oft getrennte Wege.
"Lesen ist doch so wichtig", sagt eine ältere Dame unvermittelt im Zug mit Blick auf den jungen Mann neben ihr, der an seinem Notebook abwechselnd spielt, einen Job sucht und dabei telefoniert. "Bücher lesen, meine ich", ergänzt sie lächelnd. Doch der junge Mann reagiert nicht darauf. Vielleicht hat er sie schlichtweg überhört.

Das ist sicher eine der sichtbaren Erscheinungen unserer heutigen modernen Zeit: Bücher und Zeitungen verschwinden aus dem öffentllichen Raum. Haben früher in der Bahn die meisten Reisenden gelesen, sind nun Mobiltelefonie das häufigst genutzte Equipment. Kein Rascheln beim Umblättern der Zeitungen, kein Seufzer am Ende eines Romans. Nur das helle Licht der Bildschirme und durcheinander gemengte Stimmschnipsel von Telefongesprächen. Gelesen wird, wenn überhaupt noch, im stillen Kämmerlein. Vielleicht vor dem Einschlafen.

Das Smartdevice ist der Faustkeil der modernen Zeit

Verkehrte Welt. Das Private wird öffentlich, während er öffentliche Diskurs über aktuelle Artikel und umstrittene Werke angesagter Autoren immer mehr verstummt. Dafür erfahren Mitreisende, welche Tabletten Tante Erna nehmen muss und wie sehr Opa Emil unter Oma Olga leidet. Beziehungsprobleme werden im Abteil am Telfon besprochen und so manche Trennung bekommt der peinlich berührte Nebenmann zwangsläufig mit - auch wenn er sich wünscht, das Gespräch wie ein Radio abschalten zu können. Aber was ist ein Radio? Wer kennt das noch? Heute wird gestreamt und das Smartdevice, das vor Jahrtausenden noch ein einfacher Faustkeil war, verbindet uns heute mit der ganzen Welt.

Wohin der Faustkeil uns führte, ist hinlänglich bekannt. Doch wohin führt das Mobiltelefon die Menschheit? Einstweilen führt es uns fort - vom Lesen, von langen gedankenverlorenen Blicken aus dem Fenster, von Gesprächen mit zufällilgen Bekanntschaften. Unser Körper reisen umher, doch unser Geist schlägt eine andere Route ein.

Die meisten Menschen sind heute doppelt unterwegs

Wir leben in einer Zeit, in der Körper und Geist oft getrennte Wegen gehen. Der eine im Hier und Jetzt, der andere im virtuellen Irgendwo. Der Zug wird vom öffentlichen Raum, einem Ort der Begegnung, zu einer reinen Transportkabine degradiert. Und das ist nicht die einzige Herabstufung. Die Mitmenschen entwickeln sich von Gesprächspartnern zu Followern. Ihr Wert bemisst sich nach den Likes, die sie verteilen. 

In der virtuellen Welt werden Menschen damit zu Objekten, deren Aufgabe es ist, Zahlen zu erzeugen, um mehr Objekte zu binden. Kommunikation verarmt, weil es nur darum geht, Häkchen, Sterne oder vergleichbare Symbole zu setzen. Selbst Kommentare dienen vor allem der messbaren Interaktion.

Ein Gegenentwurf zur digitalen Welt

Diese Messbarkeit ist der stärkste Unterschied zwischen der virtuellen und der realen Welt. Jeder Schritt ist nachvollziehbar. Die Datenspur führt durch unser aller Leben und die Masse der Datenspuren durchleuchtet die Gesellschaft. Deshalb wird die Welt im Eiltempo digital. Sie lässst sich auf diese Weise bis ins Kleinste analysieren. Vielleicht wollen die Menschen dadurch ihre Urangst vor der Dunkelheitt bekämpfen. Jedenfalls bringt die Digitalisierung Licht auch in den kleinsten Winkel unseres Daseins. Mehr Objekt geht nicht. Während Kühe ihrer Milch wegen gemolken werden, saugt das Internet den Menschen die Daten aus. Deshalb sollen wir es möglichst ständig nutzen.

Der Gegenentwurf sollte also heißen: Lest mehr Zeitungen und Bücher, trefft euch, redet darüber, vor allem: Lasst eure Mobiltelefone dabei ausgeschaltet! Führt Körper und Geist wieder zusammmen, indem ihr beieinander seid. Zum Beispiel auch bei philosophischen Gesprächen. Berichtet darüber. Ladet neue Leute ein. Nutzt die digitalen Möglichkeiten, um die reale Welt zu beleben. 

Ich freue mich über eure Ideen und Kommentare. Wie wäre es mit einer Buchempfehlung oder Terminen zu euren Veranstaltungen?

Samstag, 17. Juni 2023

Afrika und die Entstehung der modernen Welt

Das Cover des vorgestellten Buches über die Entstehung der modernen Welt mit Blick auf Afrika
Die meisten Menschen in der westlichen Welt nehmen kaum zur Kenntnis, dass sie den Wohlstand ihrer Länder vor allem Afrika zu verdanken haben. Besonders die jahrhunderte lange Ausbeutung der Arbeitskraft afrikanischer Menschen hat zu Reichtum und Entwicklung Europas, später auch der sogenannten Neuen Welt, also hauptsächlich Nordamerikas, beigetragen. 

So steigerten Zuckerrohrplantagen, die auf Sklavenwirtschaft basierten, die durchschnittliche Kalorienzufuhr der Bürger Europas nachhaltig. Daraus folgte unmittebar weniger Hunger, größere Zufriedenheit und höhere Leistungsfähigkeit. Zusammen mit dem Kapital, das sich durch die billigen Arbeitskräfte anhäufte, trug dies entscheidend zur industriellen Revolution bei, die Europa entgültig an die Spitze der weltweit führenden Regionen katapultierte. 

Europa stieg auf, weil es Afrika ausbeutete

Natürlich passt es nicht ins schöne Selbstbild, dass der europäische Erfolg zum großen Teil auf Völkermord beruht. Millionen Afrikaner wurden verschleppt und mussten sich auf den Plantagen der Europäer zu Tode arbeiten. Ihre Lebenserwartung betrug fünf bis sieben Jahre. Wohlgemerkt derjenigen, die Gefangenschaft, Verschleppung und Überfahrt überlebten. Aufstände wurden brutal zerschlagen. Die Afrikaner galten als Besitz und nicht als Menschen. Selbst der berühmte erste Satz in der amerikansichen Unabhängigkeitserklärung: "Wir halten diese Wahrheit für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen worden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freiheit und das Bestreben nach Glückseligkeit." galt nicht für afrikanische Menschen, die als Skalven schufteten und eben nicht gleich und frei waren.

In seinem Buch Afrika und die Entstehung der modernen Welt (Klett-Cotta 2023, 508 Seiten, € 35,00) schildert der amerikanische Journalist Howard W. French eindrucksvoll die Zusammenhänge zwischen der Ausbeutung Afrikas und dem Aufstieg Europas. Dabei lässt er nicht die kulturellen und wirtschaftichen Mechanismen innerhalb Afrikas außer Acht, die den Sklavenhandel begünstigt haben. Vor allem aber berichtet er über das Wettrennen verschiedener europäischer Nationen von Portugal über Spanien bis England um Gold, Land und Menschen in Afrika. 

Selbst modernes Management wurde auf Plantagen entwickelt

Die New York Times bezeichnet das Buch als "eine ebenso schmerzhafte wie notwendige Lektüre, die demütig werden lässt". Zurecht. Von Kapitel zu Kapitel wird deutlicher, wie sehr sich Europa auf Kosten Afrikas bereichert hat - und wie groß der Anteil dieses lange verschmähten Kontinents an der Entstehung von Wirtschaftssytemen und politischem Denken unserer modernen Welt ist. So sind erste Vorstellungen von wirtschaftichem Management nicht erst, wie lange behauptet, im Zuge der industriellen Revolution entstanden, sondern bereits durch die Plantagenwirtschaft, um zu kalkulieren, wie Sklaven möglichst effektiv eingesetzt werden können.

Die Leistung von Howard W. French besteht darin, die schon im 15. Jahrhundert beginnende und sich allzu tragisch entwickelnde Beziehung zwischen Afrika und Europa, ohne die unsere Moderne nicht vorstellbar wäre, unverblümt und kenntnisreich darzustellen. Dabei steht der sachliche Bericht im Vordergrund und nicht irgendeine Schuldzuweisung. 

Afrika sollte endlich im europäischen Bewusstsein ankommen

An der Entwicklung und ihrem Resultat lässt sich heute nichts mehr ändern. Was jeder einzelne Mensch aber verändern kann, ist seine Sicht auf die Vergangenheit. Wenn wir den Blick auf Afrika richten, sollten wir daran denken, was wir diesem Kontinent zu verdanken haben und was Europa ihm seit Jahrhunderten zumutet. 

Ein guter Anfang ist die Lektüre des Buches von Howard W. French, damit die Geschichte Afrikas mit all ihren Verflechtungen zu Europa endlich in das Bewusstsein der Menschen rückt.