Dienstag, 27. Juni 2023

Menschen lassen ihr Menschsein von Maschinen testen

Wir müssen unser Menschsein mit kleinen Tests im Internet nachweisen, um uns von den Bots im Netz abzugrenzen
Seit einiger Zeit ist es nicht mehr selbstverständich ein Mensch zu sein. Jedenfalls im Internet. Denn es sind Bots unterwegs, die sich wie Menschen verhalten, um alle möglichen Aktionen durchzuführen. Deshalb müssen sich Menschen als solche ausweisen und diesbezüglichen Tests unterziehen. Manchmal genügt es einen Haken zu setzen, mit dem wir bestätigen kein Bot zu sein. Öfter weden wir genötigt, Ampeln, Flugzeuge, Fahrräder oder Schiffe auf einer Auswahl von Bildern zu erkennen und zu zählen. Ist das nicht entwürdigend?

Doch ist noch kein Protest laut geworden. Niemand scheint sich darüber zu wundern oder zu beschweren. Der Menschentest ist schleichend gekommen und kritiklos haben wir uns an ihn gewöhnt. 

Wer testet wen?

Captchas heißen die Tools, die unsere Menschlichkeit überprüfen. Hinter der Abkürzung verbirgt sich die vielsagende Bezeichnung: "Completely automated public Turing Test to tell Computers and Humans apart." Dabei wurde der Test von Alan Turing in den 1950er Jahren entwickelt, um die Leistungsfähigkeit von Computern mit menschlicher Intelligenz zu vergleichen. Er selbst nannte seine Entwicklung ursprünglich Imitation Game. Ein Mensch stellt Fragen und muss dann entscheiden, ob die Antworten von einem Mitmenschen oder einer Maschine stammen. Die Idee dahinter: Wenn Mensch und Maschine nicht mehr zu unterscheiden sind, haben wir es mit künstlicher Intelligenz zu tun.

Die Wirklichkeit hat - wie so oft - die Theorie überholt. Nur dass die Maschinen den Spieß irgendwie umgedreht haben. Die Menschen müssen einen Nachweis ihrer Menschlichkeit erbringen. Spricht das allein nicht schon für die Überlegenheit von künstslicher Intelligenz?

Oder spricht vielmehr gegen die Intelligenz der Menschen die Tatsache, wie bereitwillig sie sich diesen fortwährenden kleinen Tests im Internet unterziehen?

Wir beginnen Arbeitsplätze mit Maschinen zu teilen

Schleichend geben die Menschen auf, was sie bisher immer für selbstverständlich hielten - ihr Alleinstellungsmerkmal als intelligente Lebensform auf der Erde. Wir beginnen schon zu teilen und den wenigsten fällt es auf. 

Aktuell verlieren wir Arbeitsplätze an künstliche Intelligenzen. Unternehmen kommunizieren das ganz offen. Noch immer regt sich kaum Protest. Arbeitnehmer hoffen darauf, dass durch den vermehrten Einsatz von KI neue Arten von Jobs geschaffen werden. Zum Beispiel Menschenerklärer, die mittels Algorithmen Maschinen das Denken und Verhalten von Menschen nahebringen.

Anfänge eines tiefgreifenden Wandels

Wir haben keine Worte für das, was gerade geschieht. Deshalb nennen wir es technische Revolution. In Wahrheit ist es Evolution. Ein langsamer Prozess der Entwicklung und Verdrängung. Natürlich glauben wir daran, alles im Griff zu haben. Aber dieser naive Glaube wurde schon oft in der Geschichte der Menschheit erschüttert. 

Was wir gerade erleben sind die Anfänge eines tiefgreifenden Wandels. Unser Wertesystem wird sich verändern, unser Selbstbild und unser Glaube, wenn die Menschheit zum Schöpfer mutiert. Gleichgültig, wie intelligent KI letztendlich wird, wie eigenständig und empathisch: Ab sofort sind wir nicht mehr allein, gibt es eine Art neben uns, die es mit der Menschheit aufnehmen kann.

Das ist natürlich kein Grund für Panik, sondern für Neugier. Was folgt aus diesen Feststellungen? Inwieweit müssen die Menschen ihre Philosophie überdenken? Zum Beispiel in der Ethik. Wie eigenverantwortlich ist künstliche Intelligenz? Ab wann hört sie auf, einfach nur als Maschine zu gelten? Aber auch: Was bedeutet es in Zukunft, ein Mensch zu sein?

Künstliche Intelligenz greift in unser Leben ein

Es wird komplizierter mit unserer Schöpfung neben uns. Zu allererst müssen wir uns eingestehen, uns schon jetzt ihren Möglichkeiten unterzuordnen. Nicht die künstliche Intelligenz muss ihr Maschinensein nachweisen, sondern wir unser Menschsein. Das ist keine Bagatelle und weist die Richtung, in die es derzeit geht. Künstliche Intelligenz greift in unser aller Leben ein.

Im Moment stecken noch Menschen dahinter, die Anweisungen geben. Zumindest glauben wir das. Doch was ist die Ursache für manche Anweisungen? Die Existenz künstlicher Intelligenz. Also sind wir gezwungen uns abzugrenzen. Deshalb kommen die Anweisungen zwar von Menschen, werden aber von künstlichen Intelligenzen veranlasst. Wie gesagt, wir glauben, alles im Griff zu haben....

Kein Grund zur Panik - oder doch?

Trotzdem kein Grund zur Panik. Wir sollten nur bewusste Entscheidungen treffen. Wollen wir uns von der Entwicklung überrollen lassen oder nehmen wir uns die Zeit, gut zu überlegen? 

Ach ja, es ist die Menschheit, um die es hier geht. Wann hat sie schon jemals eine Entwicklung gut überlegt? Gewiss nicht den Bau der Atombombe und auch nicht den Einsatz chemischer Mittel in der Landwirtschaft, ganz zu schweigen von Genmanipulation, Sklavenwirtschaft, Verdrängung der indigenen Bevölkerung in Amerika, Abholzung der Wälder, Kolonialismus und vieles mehr. 

"Frieden bedeutet, dass man einen größeren Stock hat als der andere", sagt Tony Stark in einem Iron Man-Film. Solange dieses Denken die Realität der Menschen widerspiegelt, wird künstliche Intelligenz zu einer Waffe werden, die sich irgendwann gegen uns wendet.

Jetzt ist Panik angebracht!

Sonntag, 25. Juni 2023

Wir haben eine Wahl

Beim Brötchenkauf beginnt die Wahlfreiheit schon mit der Tüte
Sonntagmorgen, 8:37 Uhr, irgendwo in Deutschland. Eine Schlange von elf Menschen vor der örtlichen Bäckerei. Die Verkäuferinnen arbeiten zu zweit die Wünsche der Kundschaft ab. Es geht zügig voran. Tüte für Tüte werden Brötchen und Brot über den Tresen gereicht. In den bekannten braunen Bäckertüten. Der zwölfte Kunde lässt sich von der Bedienung seinen Jutebeutel füllen. "Darauf geben wir zehn Prozent", sagt die Verkäuferin. "Aber Sie sind der Erste heute." Bei zehn Brötchen gibt es eines kostenlos, wenn man nur einen eigenen Beutel verwendet. Weshalb nimmt kaum jemand dieses Angbebot an?

Vor der Tür halten zwei Männer einen kurzen Sonntagsplausch. Beide haben eine große, gut gefüllte Bäckertüte im Arm. Sie tragen kurze Hosen und Sonnenbrillen, wirken entspannt. "Seit sechs Wochen kein Regen", sagt der eine. "Die Hitze wird langsam unerträglich." Darauf der andere: "Und was unternimmt die Regierung gegen den Klimawandel?" Der erste: "Nichts. Das ist doch alles nur Gerede." Sie winken sich zufrieden mit ihren Bäckertüten zu und gehen auseinander.

Kleinigkeiten wie Brötchentüten fallen kaum auf

Eine Alltagsgeschichte, wie sie sich vermutlich tausendfach in Deutschland ereignet. Die Menschen bemerken nicht die Ironie. Sie unterscheiden zwischen verschiedenen Welten: Ihre Privatwelt, in der es um persönliches Wohlbefinden geht und die Umwelt, die den Rahmen für das eigene Glück setzt. Dabei wird alles, was schief läuft, der Umwelt zugeschrieben. Konkret: Den Klimawandel muss die Politik stoppen. Dafür gibt es schließllich Wahlen, mit denen die Privatwelten der Umwelt den Auftrag geben, alles zu regeln. Für die nächsten vier Jahre erledigt. 

Kleinigkeiten wie Brötchentüten fallen den wenigsten Menschen auf. Auch wenn es einen Anreiz gibt und obwohl viele sich über steigende Preise aufregen. Zwischen Reden und Handeln klafft eine riesengroße Lücke. Selbst an den Kassen der Supermärkte werden immer noch Tüten verlangt, auch wenn inzwischen für sie bezahlt werden muss. Den Menschen ist das gleichgültig.

Keine Wahl?

Laut Statista stieg der Verbraucherpreisindex für vorgebackene Brötchen in Deutschland im Jahr 2021 um etwa 6,12 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Viele beklagen sich darüber. Es ist ein Thema bei Gesprächen. Wie kann die Umwelt das nur zulassen? Gekauft wird trotzdem. "Wir haben doch keine Wahl", sagen die Menschen.

Doch wie das Beispiel mit den Brötchentüten zeigt, muss es heißen: Sie nutzen ihre Wahlmöglichkeiten nicht. Warum? Vielfach aus Gewohnheit. Es war schon immer so, es muss so bleiben. Dann natürlich aus Gedankenlosigkeit. Was kann ich beim Bäcker schon groß ändern? Dabei könnte eine Vielzahl kleiner Achtsamkeiten viel bewirken. In diesem Fall hätte die Masse einen positiven Einfluss auf die Umwelt. 

Masse hat einen ungeheuren Einfluss

Es sind Gewohnheit und Gedankenlosigkeit, zu der auch mangelnde Neugier zählt, die einen erheblichen Anteil an den Schwierigkeiten im gesellschaftlichen Zusammenleben bis hin zum Klimawandel verursachen. Jeder lebt sein Leben. Grundsätzlich aneinander vorbei. Andere spielen nur eine Rolle, insoweit sie in das eigene Leben integriert werden. Familie oder Freunde. Aber keiner will auf seine Brötchentüte für die Umwelt verzichten. Viel zu abstrakt. Was ist das schon - diese Umwelt?

Die Frage lässt sich einfach beantworten: Die Umwelt, das sind wir in unserer Gesamtheit als Masse Mensch. Aus einer Brötchentüte wird also schnell an ganzer Berg Abfall. Zum Beispiel lassen sich die Einweg Kaffeebecher, die unsere Gesellschaft in einem Jahr verbraucht, bis zum Mond stapeln. Pro Stunde sind es etwa 320.000 Einwegbecher. Masse hat einen ungeheuren Einfluss - auch wenn sie nur aus vielen einzelnen Menschen besteht, die alle das Gefühl eint, keine Wahl zu haben.

Wir sind Teil der Entwicklung und können Einfluss nehmen

Woher kommt dieses Gefühl, das in dem oft gehörten Argument gipfelt: Selbst wenn wir die Umwelt entlasten, verseuchen die Chinesen und Amerikaner doch die Natur weiter. Vielleicht daher, weil wir dem menschlichen Erfindergeist und der umsetzenden Wirtschaft immer einen Schritt hinterher zu hinken meinen. Beispiele Internet, Onlinehandel und ganz neu künstliche Intelligenz. Das alles wird der Gesellschaft übergestülpt - meinen wir. Doch schauen wir genau hin, stellen wir fest: Jeder von uns ist Teil dieser Entwicklung. Entsprechend können wir Einfluss nehmen. 

Eigentlich. In Wirklichkeit nutzen wir die Angebote freudig und gedankenverloren, sobald sie ihre Massentauglichkeit erreichen. Wir sehen, wie der Onlinehandel den stationären Einzelhandel verdrängt und die Innenstädte allmählich veröden. Aber anstatt in der Nachbarschaft einzukaufen und dabei neue Leute kennenzulernen, bestellen wir im Wohnzimmer Waren aus aller Welt. 

Wir haben sehr wohl eine Wahl. Sie beginnt beim Brötchenkauf. Also: Eigenen Beutel einstecken und in der Schlange andere darauf aufmerksam machen, dass es nicht jedesmal eine neue Papiertüte sein muss. Und wenn wir schon dabei sind, können wir unser nächstes Buch auch beim örtlichen Händler bestellen. Das macht viel mehr Spaß, als mit ein paar Klicks eine anonyme Logistikkette in Gang zu setzen. Versprochen.

Samstag, 24. Juni 2023

Verzettelt

Diogenes wollte nur Sonne und verzichtete auf materielle Gunst
Kennen sie das auch: Jeder Menge Aufgaben liegen vor ihnen und sie haben keinen Plan, wie sie alle erledigen sollen? Die Gegenfrage lautet: Wer kennt das nicht? Angefangen bei Schülern über Studenten und Arbeitnehmern bis zu Rentern. Irgendwie hat jeder das Gefühl, von Jahr zu Jahr mehr erledigen zu müssen. Aber stimmt das?

Verzetteln heißt, sich zu verlieren

Es scheint zumindest kein Thema für eine philosophische Betrachtung zu sein. Doch nur auf den ersten Blick. Dann wird schnell klar: Wie jemand mit der Vielfalt an Aufgaben umgeht, die er zu bewältigen hat, hängt von der inneren Haltung ab, die wiederum die Persönlichkeit widerspiegelt und das eigene Weltbild. Wer in seinen Aufgaben versinkt, empfindet vielleicht das Leben wie ein Labyrinth. Verzetteln heißt, sich verlieren und wiederfinden zu müssen. Eine Aufgabenliste zu führen und sie akribisch abzuarbeiten, bedeutet Struktur zu haben - oder sich zumindest darum zu bemühen. 

Diogenes wollte nur Sonne und Ruhe

Extreme gibt es natürlich wie überall. Den Pedanten, der seine Aufgaben farbig nach dringlichkeit ordnet, mehrfach umsortiert und jedesmal Notizen anfertigt, so dass er dafür mehr Zeit benötigt, als für die Erledigung der Aufgaben. Oder den Verschieber, der immer wieder neue Fälligkeitstermine setzt, um Aufgaben nicht sofort erledigen zu müssen. Und natürlich den Chaoten, der seine Aufgaben vergisst, verlegt, verschlampt, um sich darüber zu freuen, keine Aufgaben zu haben.

Angeblich verlangte Diogenes von Alexander dem Großen, aus der Sonne zu gehen, als der ihm eine Gunst erweisen wollte. Der Philsosoph brauchte kein Hab und Gut. Er wählte die Einfachheit. Ähnlich lässt sich möglicherweise das Dilemma mit der Aufgabenvielfalt lösen. Wieviele Aufgaben sind wirklich notwendig? Bestimmt nicht die, denen wiederholt ein neues Fälligkeitsdatum zugewiesen wird. 

Manche Aufgaben erledigen sich von allein

Es ist an der Zeit, Aufgaben neu zu sortieren. Wie wäre es damit: Aufgaben, die Freude bereiten. Aufgaben, die unbedingt sein müssen. Aufgaben, denen ich besser aus dem Weg gehe. Aufgaben, die sich von allein erledigen.

Einen Versuch ist es allemal wert. Und ja, es gibt Aufgaben, die sich von allein erledigen. Zum Beispiel kann jemand stundenlang nach einem Gegenstand suchen. Er kann aber auch einfach abwarten. Meist findet sich das Ding durch Zufall von selbst wieder an. Sogar mit Schlüsseln hat das schon funktioniert.

Fehler müssen nicht sein

Nehmen wir uns also ein Beispiel an der Haltung von Diogenes und erledigen in Zukunft, was wir in Ruhe erledigen können. Alles andere hat meist Zeit bis zum nächsten Tag. Dafür gibt es noch ein starkes Argument: Je verkrampfter wir an eine Sache herangehen, dessto schwerer fällt uns die Aufgabe. Dadurch dauert sie länger, wir werden ungeduldig und es passieren Fehler. Das muss nicht sein! 

Zurück zur Eingangsfrage, ob wir von Jahr zu Jahr mehr Aufgaben abarbeiten müssen. Das ist ein rein subjektives Gefühl, dem wir entgegentreten können, indem wir in Zukunft mehr Freude an der Erledigung unserer Aufgaben haben. Denn wenn wir es kaum erwarten können, endlich an die nächste Aufgabe zu gehen, werden wir Vielfalt nicht als unangenehm, sondern als Bereicherung empfinden.